Wenn wir ausgestorben wären

Die Sorgen der Welt lasten auf den Schultern des Kunstfests Weimar. Mit allen Mitteln der Kunst sucht es nach Erkenntnis

Ganz ohne Worte erzählt das Théâtre Les Tanneurs aus Frankreich in „Dimanche“ von einem Filmteam auf Expedition Foto: Thomas Müller

Von Katrin Bettina Müller

Wie lange noch? Wie lange noch wird die Zeit des Menschen auf der Erde währen? Wann wird seine Art den anderen Arten gefolgt sein, die dank seiner tatkräftigen Hilfe schon ausgestorben sind? Thomas Köcks Text „Und alle Tiere rufen: Dieser Titel rettet die Welt auch nicht mehr“, der auf dem Kunstfest Weimar seine Uraufführung erlebte, zündet solche Fragen wie Raketen im Kopf des Zuschauers. Vier Schauspieler:innen, Astrid Meyerfeldt, Sarah Sophia Meyer, Nico Link und Janus Torp, arbeiten sich in der Regie von Marie Bues an langen Listen der Verluste ab, die auf die Rechnung des Menschen gehen. Mal klagend, mal wütend, mal schmerzvoll traurig.

Das Abwesende, das Fehlende, das Nie-gewesen-sein-Werdende bekommt in dieser Performance, in der die Manuskriptblätter eines nach dem anderen zu Boden segeln, ein Gesicht. Die Reunion-Schildkröte, der Kaukasus-Hirsch, die Japanische Seelöwin, die Algerische Gazelle, der Sardinische Pfeiffhase: Der Text fragt nach ihren Träumen und Erinnerungen. Und er lässt die Tiere, die nie existiert haben werden, herankriechen und brüllen: „Keine Vergebung!“

Obwohl die Inszenierung allein auf die Sprache setzt, so ist sie doch sehr bildmächtig. Die Rhetorik der Sätze, die Poesie der Tiernamen erzeugen unentwegt Vorstellungsräume. Die Aufzählungen der nach kolonialen Eroberungen ausgerotteten und wegen unseres naturverschlingenden Wirtschaftssystems verdrängten Arten bilden einen langen Zug, der imaginär die Bühne kreuzt im E-Werk in Weimar.

Weimar ist eine idyllische Stadt, dank des langen Grünzugs des Illtals. Schafe weiden in der gepflegten Landschaft, die paar toten Bäumen fallen im Grün kaum auf. Hier begann draußen am 24. August das Kunstfest Weimar.

Was, wenn wir nie gewesen wären? Wäre die Erde dann nicht besser dran? Auf die eine oder andere Art stellen einige Projekte des dreiwöchigen Kunstfests Weimar diese Frage. Es geht um nicht weniger als den Klimawandel in „Dimanche“, einer Produktion ganz ohne Worte des Théâtre Les Tanneurs aus Frankreich. Mit Puppen und Spielzeugen erzählen drei Performerinnen von einem kleinen Filmteam und dessen Expeditionen in bedrohte Naturräume. Als das Eis in der Arktis bricht, versinkt der Kameramann und ein Eisbärenjunges treibt von der Mutter weg. Ein Zugvogel gerät in einen Orkan und wird durch das Fenster eines Wohnzimmers geschleudert. Dessen Bewohner kann den Vogel zwar noch braten, bevor ein Tsunami auch ihn erwischt. Am Ende sieht man Teekanne, Tisch, Toaster und den Mann, der den Vogel briet, mit den Fischen im Meer driften, nach all den Stürmen in einer sanften Bewegung.

Was, wenn wir nie gewesen wären? Wäre die Erde dann nicht besser dran?

Alles Schreckliche, was in dem kurzen Stück geschieht, ist real schon geschehen, und die Wahrscheinlichkeit steigt, dass es sich wiederholen könnte. Ob es noch andere Möglichkeiten geben kann, als dieses beschleunigte Schlittern in die Katastrophe, deutet sich allein durch die sehr reduzierten und poetischen Mittel der Aufführung an. Die Körper der Performenden bilden die Landschaften, über die das Spielzeugauto des Expeditionsteams kreuzt. Die Hände der Spielenden arbeiten perfekt im Team, reichen sich die Requisiten. Handwerklich ist es eine ständige sanfte Unterbietung des Effektvollen.

Um die Zerstörung der Umwelt und der Lebensgrundlagen des Menschen geht es auch in „Bodies and Land­scapes“ von Daniel Kötter, Elisa Limberg und Sarah Israel. In mehreren Kapiteln widmen sie sich dem Bergbau. Die Besucher durchqueren in kleinen Gruppen mehrere Räume, in denen sich dokumentarische Filme, die man mit VR-Brille sieht und also in 360-Grad-Panoramen eintaucht, mit vor Ort gespielten Szenen abwechseln. Im Kapitel „Water and Coltan“ geht es um das Ruhrgebiet und den Kongo. Minenarbeiterinnen aus dem Kongo erzählen von ihren schweren Arbeitsbedingungen, von notgedrungener Prostitution, von dem Wasser, das sie krank macht, der Gewalt von militärischen Gruppen, der sie ausgesetzt sind. Kleine Verschiebungen zwischen dem Realem und dem Fantastischen verschränken diese Szenarien mit Bildern aus dem Ruhrgebiet, von Wasserleitungen und -becken. Das Ruhrgebiet werde absaufen, wenn eines Tages die Pumpen ausfallen, erklärt in einer Spielszene ein Experte, und dann werden die wenigen Überlebenden an den Stränden zelten. Wer denkt da jetzt nicht an die jüngsten Überschwemmungen in NRW?

Rolf C. Hemke ist der Leiter des Kunstfests Weimar seit drei Jahren. Er sieht es als seine Aufgabe, den Status des Festivals als größtes interdisziplinäres Festival im Osten Deutschlands für eine klare Positionierung zu nutzen. Viele der künstlerischen Projekte docken an politisch relevante Themen an. So greift etwa das Reenactment des NSU-Prozesses, in dem an jedem Tag Schauspieler und Gäste aus der Lokal- und Bundespolitik aus Protokollen von Beweisaufnahmen und Zeugenvernehmungen lesen und darüber diskutieren, die Vertuschung und Verschleppung von Erkenntnissen auf, die auf einen strukturellen Rassismus der Ermittelnden schließen lassen. In der Form ist dies ein ungeheuer sachliches Theater, das dennoch in Ausschnitten viel von den Emotionen erahnen lässt, die die Angehörigen der ermordeten Opfer erfahren haben müssen. Mit dieser theatralen Spurensuche, die der Regisseur Nuran David Calis und der Dramaturg Tunçay Kulaoğlu eingerichtet haben, schafft das Festival eine Schnittstelle zwischen Kunst und Politik und einen Dialog in kleinen Schritten, der auf Details schaut und kaum ein Verstecken hinter Floskeln ermöglicht.