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Elf Jahre Lagerhaft und ein Herz

Maria Kolesnikowa, einer der führenden Köpfe der belarussischen Opposition, wird wegen Extremismus und versuchtem Staatsumsturz von einem Minsker Gericht verurteilt. Die Zahl politischer Gefangener nährt sich derweil der Marke 700

Von Bernhard Clasen, Kiew

Maria Kolesnikowa, führende Figur des Koordinierungsrats der belarussischen Opposition, ist am Montag von einem Minsker Gericht zu elf Jahren Haft verurteilt worden. Ihr Mitstreiter, der Anwalt Maxim Snak, erhielt zehn Jahre Freiheitsentzug. Das Gericht sah es als erwiesen an, dass sich beide verschworen hätten, illegal die Macht zu ergreifen und eine extremistische Vereinigung gegründet hätten. Wie das Gericht zu diesem Schluss kommt, ist nicht erkennbar, fand doch der Prozess bis zur Urteilsverkündung hinter verschlossenen Türen statt.

Auch den Anwälten der Angeklagten waren die Hände gebunden, hatten sie sich doch zur Verschwiegenheit bereit erklären müssen. Der Staatsanwalt hatte 12 Jahre gefordert. Sofort nach Bekanntwerden des Urteils kündigte die Verteidigung an, in Revision zu gehen.

Lange vor der Urteilsverkündung hatten sich zahlreiche Menschen vor dem Gerichtsgebäude angestellt, um die Gelegenheit zu erhalten, wenigstens jetzt die beiden Angeklagten sehen zu können. Vielen indes wurde der Zutritt verwehrt.

Ein Video des Portals sputnik.by zeigte Kolesnikowa und Snak mit Handschellen in einem vergitterten Käfig im Gerichtssaal. „Jetzt habe ich auch noch so einen Schmuck“, scherzte Kolesnikowa mit den Journalisten und hob dabei ihre Handschellen in die Höhe. Anschließend klatschte sie mit den Handschellen rhythmisch im Takt und formte mit ihren Händen das für sie typische Herz.

Drei Stunden lang habe das Schlusswort von Maxim Snak gedauert, berichtet dessen Anwalt Ewgenij Pyltschenko. Dabei sei der Jurist Snak sehr detailgenau auf die Vorwürfe eingegangen. Kolesnikowa wiederum sei in ihrer Rede sehr emotional gewesen, mehrfach habe der Richter versucht, sie zu unterbrechen. Doch sie habe alles sagen können, was ihr wichtig gewesen sei, so Pyltschenko.

Die Musikerin Maria Kolesnikowa war bis zu ihrer Festnahme im September 2020 die Seele der Protestbewegung. Sie war Sprecherin des Frauen-Trios, die zum Gesicht der Oppositionsbewegung geworden waren.

Ganz anders als die emotionale Kolesnikowa ist ihr Mitstreiter Maxim Snak. In einem Text für die Nowaja Gaseta beschreibt deren Belarus-Korrespondentin Irina Chalip Snak als „glänzenden Juristen, Bücherwurm und Pedanten“. Während man Kolesnikowa mit der Querflöte, Emotionen, ihrem Lachen und ihrem Tanzen hinter den Gittern im Gerichtssaal assoziiere, stehe Snak für Gesetzesparagrafen, Links und Ergänzungen zu Gesetzestexten.

In einer ersten Stellungnahme forderte die im litauischen Exil lebende Oppositionsführerin Swetlana Tichanowskaja die sofortige Freilassung von Maria Kolesnikowa und Maxim Snak. Das Urteil sei Terror gegen das belarussische Volk. „Maria und Maxim sind Helden für die BelarussInnen. Das System will uns brechen und uns die Kraft nehmen. Doch seht sie an: sie lachen und tanzen“, so Tichanowskaja auf Twitter.

„Das Urteil ist eine herbe Enttäuschung für viele hier in meinem Umfeld“ berichtet die Minsker Radioingenieurin Alexandera Kondratjewa der taz am Telefon. „Die meisten reden in ihrer Küche das eine und draußen sagen sie etwas ganz anderes. So ist die Stimmung.“

Gleichzeitig ist sie sich sicher, dass die beiden die Haftstrafe nicht absitzen werden. „Irgendwann kommt eine andere Regierung und dann werden die politischen Gefangenen freigelassen“, sagt Kondratjewa. „Ich bin stolz auf Maria. Sie ist so kämpferisch und ohne Aggressionen. Ich freue mich, dass so viele Menschen bei der Gerichtsverhandlung dabei sein wollten.“

Die Verurteilung der prominentesten Vertreter der Opposition wirft ein Schlaglicht auf die Repressionen, die das Land seit der gefälschten Präsidentenwahl vom 9. August 2020 erschüttern. 687 politische Gefangene zählt die Menschenrechtsorganisation Wjasna aktuelle auf ihrem Portal – und geht davon aus, dass sich diese Zahl erhöhen könnte. Seit Jahren dokumentiert Wjasna Menschenrechtsverletzungen im Land. Immer wieder ist in ihren Berichten die Rede von Folter in belarussischen Haftanstalten.

Wjasna hatte den Fall der fünf „Minsker Partisanen“ öffentlich gemacht. Diese seien besonders schwer gefoltert worden. „40 Mal haben sie den Elektro­schocker eingesetzt, bis der Akku leer war“, zitiert Wjasna einen der inhaftierten „Partisanen“. Auch Wjasna ist selbst gefährdet. Seit Wochen ist ihr Chef und Träger des Alternativen Nobelpreises von 2020, Ales Bia­liatski, in Haft.

Kolesnikowas Mitstreiter, der Anwalt Maxim Snak, muss für zehn Jahre ins Gefängnis

Derzeit stehen in Gomel drei Wjasna-Aktivisten, Leonid Sudalenko, Tatjana Losiza und Maria Tarasenko vor Gericht. Sie werden der Störung der öffentlichen Ordnung beschuldigt. Auch gegen sie wird hinter verschlossenen Türen verhandelt.

Auch Umweltaktivisten werden verfolgt. So berichtet die tschechische Umweltorganisation Arnika, die seit vielen Jahren mit belarussischen Umweltschützern zusammenarbeitet, von zunehmenden Repressionen gegen Umweltschützer. So sei kürzlich das Zentrum für umweltfreundliche Lösungen verboten worden, Mitarbeiter des „Ökohauses“ stünden kurz vor einer Festnahme.

Arnika sieht diese Repressionen in einem Zusammenhang mit dem Widerstand der Umweltschützer gegen das Atomkraftwerk Ostrowez und Protesten gegen eine Batteriefabrik in Brest.

Unterdessen wurde bekannt, dass sich Alexander Lukaschenko und Wladimir Putin am 9. September in Moskau treffen werden. Dabei wird es vor allem um eines gehen: die weitere Integration von Belarus in das Unionsprojekt mit Russland.

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