Unblutiger Machtwechsel in Kabul

Afghanistans bisherige Regierung streckt die Waffen und handelt gemeinsam mit den USA die Machtübergabe an die Taliban aus

Von Thomas Ruttig

In Afghanistans Hauptstadt Kabul hat die US-Regierung offenbar eine kampflose Machtübernahme durch die Taliban arrangiert. Nachdem das afghanische Führungsmitglied Abdullah Abdullah am Sonntagnachmittag bestätigte, dass der bisherige Präsident Aschraf Ghani das Land in Richtung Tadschikistan verlassen hat, ordnete die Taliban-Führung den Einmarsch ihrer Kämpfer in die afghanische Hauptstadt an – um angesichts der Flucht der bisherigen Machthaber Plünderungen zu verhindern und damit anderen Menschen kein Schaden zugefügt werde, wie es in einer Erklärung hieß.

Seit Freitag hatten die Taliban fast alle noch in Regierungshand befindlichen Provinzhauptstädte ohne Gegenwehr eingenommen und am Sonntagmorgen waren sie in einige Außenbezirke Kabuls eingerückt. Zunächst ordnete die Taliban-Führung an, ihre Kämpfer sollten Kabul „nicht mit Gewalt“ betreten. Afghanistans bisheriger Innenminister Abdul Sattar Mirsakwal und Verteidigungsminister Bismillah Muhammadi wandten sich mit der Zusicherung an die Bevölkerung, es werde nicht zu Kämpfen kommen. Damit war klar, dass Afghanistans Armee und Polizei keinen Widerstand mehr leisten und Straßenkämpfe vermieden würden. Taliban-Sprecher Suhail Schahin sagte der BBC aus Katars Hauptstadt Doha, es werde in Kabul „keine Rache an irgendjemandem“ geben. Die Stadt solle dem „Islamischen Emirat von Afghanistan“ friedlich übergeben werden. Unter Berufung auf diplo­matische Quellen und afghanische Regierungsmitglieder sickerte durch, dass Taliban-­Vizechef Mulla Abdul Ghani ­Baradar sich auf dem Weg aus Katar nach Kabul befinde, um die Machtübergabe zu arrangieren. Neben den USA seien der Chef des afghanischen Friedensrates und frühere Oppositionsführer Abdullah und Ex-Staatschef Hamed Karsai beteiligt.

Präsident Ghani war in die Verhandlungen nur indirekt über den US-Sonderbeauftragten Zalmay Khalilzad einbezogen. Die Taliban haben sich bis zum Schluss geweigert, seine Regierung anzuerkennen und mit ihr direkt zu verhandeln. Ghani dürfte künftig keine politische Rolle mehr spielen.

„Wir versichern den Menschen, dass ihr Hab und Gut und ihre Leben sicher sind“

Suhail Schahin, Taliban-Sprecher

Mit der Machtübernahme durch die Taliban endet auch die direkte Rolle des US-geführten Westens in Afghanistan. Einige westliche Regierungen evakuierten gestern ihr Botschaftspersonal, andere Staatsangehörige sowie einen Teil ihrer örtlichen Angestellten. Dazu beorderte US-Präsident Joe Biden am Sonnabend 1.000 zusätzliche Soldaten nach Afghanistan, zusätzlich zu 650 Botschaftsschützern und 3.000 weiteren noch nicht abgezogenen Soldaten. Mit der Evakuierung dürfte auch deren Abzug abgeschlossen sein, mit Ausnahme des Schutzes der US-Botschaft, die unter US-Kontrolle bleibt.

Tatsächlich wurde gestern in Kabul nicht gekämpft, wie Kontakte in der Kabuler Bevölkerung bestätigten. Sie bestätigten auch die Anwesenheit von Taliban-Kämpfern im südöstlichen Stadtteil Kart-e Nau, im nördlichen Bagh-e Bala und im westlichen Chuschhal Mena. Im Osten, in Pul-e Tscharkhi, öffneten sie die Tore des dortigen Zentralgefängnisses, wo Tausende ihrer Mitkämpfer einsaßen. Bei Schüssen, über die berichtet wurde, handelte es sich offenbar um die Polizei, die in die Luft schoss, um Menschenmengen zu zerstreuen. Auch das bestätigte ein taz-Kontakt für den Stadtteil Darulaman.

Am Freitag und Sonnabend hatten sich vor den Banken in Kabul lange Schlangen von Menschen gebildet. Aber Bargeld war nicht mehr vorhanden. Offenbar gab es bereits eine Abmachung mit den Taliban, dass die Nationalbank, die den Geldfluss kontrolliert, ihre Überweisungen an die Privatbanken, bei denen die meisten Menschen ihre Konten haben, kurzzeitig einstellt. Die Taliban sollen den Privatbanken Schutz und ungestörten Geschäftsablauf zugesichert haben. Damit sollten offenbar auch Plünderungen sowie Abfluss ins Ausland verhindert werden. Besonders dieser Fakt deutet darauf hin, dass die Machtübergabe bereits länger geplant war.

Der Fall von Kabul erfolgte dennoch schneller als von vielen erwartet. Erst am Freitag war mit der nordafghanischen Stadt Masar-i-Scharif, dem letzten Stationierungsort der Bundeswehr, Afghanistans vorletzte Großstadt an die Taliban gefallen. Gestern folgten die beiden letzten Regionalzentren, Dschalalabad im Osten und Bamian in Zentralafghanistan, sowie die Provinzhauptstadt Maidanschahr am Südwestrand Kabuls und mehrere ländliche Distrikte der Provinz Kabul. Bamian liegt im Siedlungsgebiet der schiitischen Hasara, die besonders unter dem Talibanregime vor 2001 gelitten hatten. Aber das Gebiet war nicht mehr zu halten, nachdem mehrere ihrer Warlords entweder zu den Taliban übergelaufen oder mit ihnen Deals geschlossen hatten. Auch der Militärstützpunkt Bagram, nördlich von Kabul, bis vor Kurzem Hauptquartier der US-Militärs, wurde kampflos übergeben.

Am Vorabend der Machtübergabe: Ein Mann in der Stadt Herat verkauft Taliban-­Flaggen Foto: Hamed Sarfarazi/ap

Die Warlords, die bisherigen US-Hauptverbündeten im Kampf gegen die Taliban, waren schnell aus dem Feld geschlagen. Ihre Milizen leisteten wie Armee und Polizei kaum Widerstand. Zwei der wichtigsten, Abdul Raschid Dostum und Atta Muhammad Nur, flohen offenbar über die afghanische Nordgrenze nach Zentralasien, nachdem sie sich in den letzten Tagen noch einmal martialisch in ihren Generalsuniformen fotografieren ließen.

Auch Vizepräsident Amrullah Saleh, enger Vertrauter des 2001 von al-Qaida ermordeten Mudschaheddinführers Ahmad Schah Massud sowie der USA, verschwand von der Bildfläche. Zuletzt war er schon einmal in Tadschikistan aufgetaucht, von wo aus Massud in den 1990er Jahren den Wi­derstand organisiert hatte. Saleh könnte versuchen, das nachzumachen. Massuds Hochburg, das Pandschirtal, wurde bisher noch nicht von Talibankämpfern besetzt.