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Alle wollen nur das Beste

Kurz vorm Schulstart in Bremen stehen die Bedingungen für das dritte Coronaschuljahr fest. Einigen sind die Maßnahmen zu lasch, andere würden am liebsten ganz aufs Testen und auf Quarantäne verzichten

Von Lotta Drügemöller

Die Schulbehörde denkt schon übers Aufräumen nach: Eineinhalb Jahre Unterricht unter Coronabedingungen scheinen Schäden bei den Schü­le­r*in­nen hinterlassen zu haben. Um festzustellen, welche das sind, sollen die Lehrkräfte in den ersten Wochen des Schuljahrs, das am Donnerstag startet, vor allem ihre Schü­le­r*in­nen beobachten. Was fehlt am meisten? Mathekenntnisse? Beweglichkeit? Eine Klassengemeinschaft? Und: Ist auch die psychische Gesundheit angekratzt? Ende September sollen sich Leh­re­r*in­nen dann aus einem „Warenkorb“ Angebote der Bildungsbehörde aussuchen können, um die Defizite zu bearbeiten: Ausflüge, zusätzliche Unterrichtsstunden, Sporttraining.

Die Pandemiefolgen aufzuarbeiten ist ein hehres Ziel; vorab steht noch ein akutes Problem an: Wie soll es dieses Jahr weitergehen mit Corona? Der Schulstart, das zeigt der Blick in andere Bundesländer, ist noch einmal ein ziemlicher Boost für die erkannten Infektionen. In Bremen steht die Sieben-Tage-Inzidenz bereits jetzt bei über 70, in Bremerhaven bei über 130.

Testen, testen, testen

Die Maßnahmen für den Coronaschutz sind nicht ganz neu: An den ersten beiden Tagen werden alle Schü­le­r*in­nen mit Schnelltests getestet, um zu verhindern, dass massiv Fälle aus den Ferien eingeschleppt werden. Ab Woche zwei wird, wie im letzten Schuljahr, dann zweimal die Woche getestet – nicht mit Schnelltests, sondern mit den zuverlässigeren PCR-Tests, die in Laboren ausgewertet werden. Für Grund­schü­le­r*in­nen gibt es sogenannte Lolly-Tests, mit denen nicht unzuverlässig und unangenehm in der Nase herumgepopelt werden muss.

Tests sind geplant für die ersten drei Wochen – und dann? Geht es „bis in alle Ewigkeit“ weiter, scherzt Aygün Kilincsoy. Schulpandemiepolitik ist vermintes Gelände für Scherze – und so korrigiert sich der Büroleiter und kommissarische Sprecher der neuen Bildungssenatorin Sascha Aulepp (SPD) schnell selbst – natürlich gilt die Testpflicht nur auf Sicht, bis die Pandemie anderes zulässt. „Aber das ist gerade schwer abzusehen.“

Eingebaut werden außerdem Luftfilter, um genau zu sein: mobile Luftreinigungsgeräte. Eine sterile Laboratmosphäre kann man damit nicht schaffen. „Aber in Verbindung mit dem Lüften schaffen wir so schon recht gute Bedingungen“, so Kilincsoy. „Wir sind gut vorbereitet auf den Unterricht im Klassenzimmer“, sagt die Bildungspolitikerin der Linken, Miriam Strunge.

Das Ziel ist nicht erreicht

Das Ziel, alle Räume mit Luftfiltern auszustatten, ist aber noch nicht erfüllt: Bisher sind 4.500 Geräte bestellt und 3.700 angekommen, das reicht für etwa 70 Prozent aller Klassenzimmer und Fachräume. Der Rest soll noch nachkommen, Bremen ist stolz auf sein 100 Prozent-Ziel. Dieses Versprechen gehe aber mit den bisherigen Rechnungen nicht auf, wendet Martin Stoevesandt vom Zentral-Elternbeirat ein: Schulen in freier Trägerschaft werden vom Senat nicht bedacht.

Die Geräte dürften einige Aerosole zu filtern haben: Eine Maskenpflicht im Unterricht soll es nicht geben. Masken müssen in Schulfluren getragen werden, in den Klassenzimmern und Mensen aber gibt es keine Vorgaben. Man vertraue „auf das Verantwortungsbewusstsein der Schüler“, sagt die Bildungsbehörde.

Die Entscheidung ist umstritten. Die Gewerkschaft für Erziehung und Wissenschaft (GEW) plädiert für eine Maskenpflicht, „aus Eigenschutz für die Kinder“, so Sprecherin Barbara Schüll. Der Zentral-Eltern-Beirat (ZEB) dagegen, der sich schon lange für geöffnete Schulen unter möglichst „normalen“ Bedingungen stark macht, spricht von einem „schwierigen Thema“, ist aber weiter an der Seite des Bildungsressorts gegen eine Maskenpflicht: „Die Belastung einen ganzen Schultag eine Maske zu tragen, ist sicherlich hoch“, so Elternvertreter Stoevesandt.

Präsenz für viele, Homeschooling für den Rest

Er spricht nicht für alle Eltern. Schon im Februar hatten einige Eltern in Abgrenzung vom ZEB eine Petition für eine Maskenpflicht aufgesetzt. Unter ihnen war auch Nils Ellendt, Vater zweier schulpflichtiger Kinder. Heute herrscht bei ihm erneut komplettes Unverständnis darüber, dass keine Maskenpflicht herrschen soll. „Das eine, das noch besser hilft als Impfen, wird nicht durchgesetzt“, klagt er, „und das bei einer Zielgruppe, die noch nicht geimpft werden kann.“

Eine Alternative für besorgte Schü­le­r*in­nen und ihre Eltern wäre weiteres Homeschooling: Für alle, die sich nicht testen lassen wollen, und für jene, die als maskenlose Kontaktpersonen von Infizierten unter Quarantäne stehen, muss es schließlich ein Unterrichtsangebot geben.

Für Leh­re­r*in­nen bedeutet das in vielen Fällen weiter mehr Arbeit: Unterricht muss also für den größeren Teil der Klasse vorbereitet werden, aber auch digital für jene, die zu Hause bleiben. „Das ist unheimlich belastend“, sagt Schüll von der GEW. Im Bildungsressort bedauert man die Mehrarbeit für Lehrer*innen. Eine Alternative sieht Kilincsoy aber nicht. „Die Quarantäne soll nicht zulasten der Schü­le­r gehen; aber bei irgendjemandem bleibt die Last hängen.“

„Durchseuchung“ – oder „Lockdown für immer“?

Die Luftfilter reichen bisher nur für 70 Prozent aller Klassenräume

Wenn es nach Stefan Trapp geht, gäbe es eine Alternative. Der Vorsitzende des Berufsverbands der Kinder- und Ju­gend­ärz­t*in­nen in Bremen plädiert dafür, nach den ersten drei Schulwochen die Tests ganz aufzugeben – und symptomlose Kontaktpersonen an Schulen nicht mehr in Quarantäne zu schicken. „Gibt es eine Chance, den Kindern die Infektion zu ersparen?“, fragt Trapp. „Realistisch gibt es die nicht. Dann bringt es den Kindern auch nichts, sich vier Monate später anzustecken und bis dahin noch auf vieles zu verzichten.“ Zuletzt hatte sich Schleswig-Holsteins Regierung von Ex­per­t*in­nen in eine ähnliche Richtung beraten lassen, am Freitag war bekannt geworden, dass Berlin die Kontaktverfolgung an Schulen aufheben will.

„Durchseuchung“ ist der böse Begriff, den Geg­ne­r*in­nen dafür nutzen, der Protest ist groß. Auch Nils Ellendt ärgert sich. „Wir sind kurz vor der Ziellinie und dann stoppen wir die Sicherheitsmaßnahmen“, sagt der Vater. „Dabei sollte jeder Mensch die Chance haben, eine Impfung zu bekommen, bevor man ihn zum Abschuss freigibt.“ Tatsächlich könnte schon im September ein Impfstoff für Kinder ab sechs Jahren zugelassen werden.

Der Lockdown hat Folgen

Trapp sieht sich nicht in der Rolle des Kindes-Missachters und beschreibt die Folgen des Lockdowns, die er bei seinen Pa­ti­en­t*in­nen beobachtet: Die Kinder entwickelten Zwangs- und Angststörungen, Depressionen würden verstärkt, es gebe Bewegungsdefizite. Seine Beobachtungen ähneln den Ergebnissen einer Studie der Uni-Klinik Hamburg. „Kinder dauerhaft nicht in die Kita und in die Schule zu schicken, ist Kindeswohlgefährdung“, sagt Trapp.

Die Frage hängt eng damit zusammen, welche Gefahr Covid-19 für Kinder darstellt. Doch während klar ist, dass die akute Krankheit bei ihnen selten schwer ausfällt sind, streiten sich Ex­per­t*in­nen noch über die Auswirkungen von Long Covid. Einige Ergebnisse scheinen darauf hinzudeuten, dass Long Covid bei Kindern selten vorkommt und von den Effekten eines „Long Lockdown“ kaum zu unterscheiden ist. Eine Studie aus Frankreich stellte zwar Hirnveränderungen bei Kindern fest – sie hat allerdings auch nur eine kleine Zahl an Kindern untersucht.

Ein wissenschaftlicher Konsens existiert also noch nicht. Kilincsoy gibt zu, dass es in der Bildungsbehörde Sympathien für die Idee von weniger Quarantäne gebe. „Wenn es nach der Bildungssenatorin geht, sollte es Präsenzunterricht für alle geben“, sagt er. Die Entscheidung fällt die Landesregierung gemeinsam – heute wird im Sennat über neue Regelungen in der Schule diskutiert.

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