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Die Schätze des Herrn Kast

Mehrere Tausend Fotos fand eine Oldenburger Familie auf dem Dachboden ihres Hauses. Wer war der Mann, der sie gemacht hat? Warum? Und was ist aus ihm geworden?

Von Lea Terlau

Die Geschichte beginnt mit einem Fund auf einem Dachboden: Familie Herpers hat das Haus im niedersächsischen Oldenburg schon vor einer Weile übernommen, möbliert. Seitdem gilt es immer weiter auszumisten, umzubauen – sich das Haus zu eigen zu machen. Zahllose Kisten werden also durchsortiert, auf- und wieder zugeklappt, manche komplett weggeschmissen. „Pril – Spült und trocknet ab“ ist in Blau und Rot auf einen der Kartons gedruckt, „Bildberichter“ steht handschriftlich auf einem anderen. Aus Neugier öffnen die Herpers die Kartons. Alte Fotografien und Negative finden sich darin, manche ordentlich abgelegt, andere wild durcheinandergeworfen. Erinnerungen an ein vorheriges Leben in diesem Haus, an einen Menschen, der hier sein Zuhause hatte – der die Aufnahmen vielleicht sogar selbst entwickelt hat, in der provisorischen Dunkelkammer hier auf dem Dachboden.

Lange überlegte die Familie, was sie mit den Bildern anstellen soll. Schlussendlich wendet sie sich an Farschid Ali Zahedi vom Oldenburger Verein Werkstattfilm. Zahedi und sein Team recherchieren zu Fotograf*innen, archivieren ihre Arbeiten und bereiten sie teils auch für Veröffentlichungen auf. Mit dieser Arbeit hat sich Werkstattfilm auch weit über die Stadtgrenzen hinaus einen Namen gemacht: Der Verein sammelt nicht einfach aus Leidenschaft, sondern nimmt Film und Fotografie ernst – als Zeugnisse einer kritischen Geschichtsschreibung. So gehören Migrationserzählungen oder verschwiegene Momente des Nationalsozialismus zu den Schwerpunkten von Werkstattfilm.

Für Zahedi ist das Recherchieren und Archivieren Bildungsarbeit: Geschichten von Fo­to­gra­f*in­nen in und um Oldenburg werden aufgearbeitet und in einen historischen Kontext gesetzt. Damit dienen sie als Grundlage für Gespräche über Vergangenes, aber auch über die Gegenwart. Privataufnahmen, die aus Kisten gekramt werden, haben nicht nur einen emotionalen Wert für die Besitzer*innen, sondern sie sind eben auch oft ein Weg, um die Vergangenheit zu betrachten und etwas über die Geschichte einer Stadt, einer Person, eines Landes zu lernen.

Nach einem Fund wie dem der Herpers beginnt die eigentliche Arbeit: Fotografien werden eingescannt, beschriftet und online archiviert. Daten werden recherchiert, Arbeitsgruppen gehen der Frage nach, wer der jeweilige Mensch hinter der Kamera war – was Bilder über ihre Ur­he­be­r*in­nen verraten. Wer also war der Fotograf Artur Kast, der seine Bilder auf diesem Dachboden zurückgelassen hat? So weit ist Werkstattfilm bereits gekommen: Geboren in Hiltrup bei Münster, verschlug es den damals 24-Jährigen 1938 nach Oldenburg. Er lebte zuerst in der Brüderstraße 16, nahe dem Pferdemarkt und der Innenstadt. Ende der 1950er- Jahre zog er in die Goethestraße 2 – wo Familie Herpers Jahrzehnte später auf die Fotografien stießen; beide sind keine schlechten Adressen. Ab dem 3. November 1969 war Artur Kast dann nicht mehr in Oldenburg gemeldet: Er zog nach Bayrischzell. Das letzte Datum auf Werkstattfilms Liste ist der 26. Februar 1996: der Tag, an dem Kast im oberbayerischen Hausham verstarb.

Seine Fotos vom Dachboden zeigen verschiedene Ansichten Oldenburgs: den Hafen im Winter. Schiffe liegen wie festgefroren am Hafenbecken, das Wasser ist mit Eis bedeckt, im Hintergrund steigt Dampf auf. Auf einem anderen posieren deutsche und britische Militärs mit einem F-86-Kampfjet auf dem Fliegerhorst. Die uniformierten Männer auf dem Bild lächeln, werfen einander Blicke zu, schauen demonstrativ den „Sabre“-Jet an. Ein Brite in der Bildmitte scheint den Fotografen aus dem Cockpit heraus direkt anzublicken. Es wirkt wie eine Pose, vielleicht für einen Pressetermin, eine Inszenierung jedenfalls.

Für Zahedi ist klar, dass diese Fotografien nicht von einem Amateur aufgenommen wurden. Sie zeigen präzise Momentaufnahmen, Bildkompositionen, die in sich stimmig sind. Solche Informationen können die Spurensuche voranbringen. Und tatsächlich fügt sich die Beobachtung ein in die recherchierte Biografie: Demnach hat Kast zunächst als Schriftsetzer gearbeitet, dann als Grafiker und schließlich als Fotograf – oder „Bildberichter“, wie es zu Kriegszeiten gelegentlich heißt.

Auf manchen Bildern ist richtige Prominenz zu sehen: Vom Rand eines Fußballfelds, der VfB Oldenburg spielt gegen den Hamburger SV, erwischt Kast Uwe Seeler beim Kopfball. Auch hier ist klar, dass das Foto kein reiner Glückstreffer war. Erstaunen kann die Vielfalt der Themen und Settings. So fängt gleich das nächste Bild einen Augenblick ein, der so privat wirkt, dass man schon beim Betrachten zu stören scheint: Zwei Menschen in Faschingskostümen sitzen einander nah gegenüber, beugen sich aufeinander zu, berühren sich leicht – als hätten sie die Kamera nicht bemerkt.

Um die 4.000 Bilder hat Kast hinterlassen, die meisten stammen aus den 1950er- und 1960er-Jahren. Anerkennung für sein Handwerk und nostalgisches, romantisierendes Eintauchen in vergangene Zeiten liegen beim Betrachten nahe beieinander: Zeiten, die so nur selten zu sehen sind – und dann noch so lokal mit all den Oldenburger Ortsmarken!

Nur liegt eben darin auch eine Frage: Denn was war eigentlich vorher? Als Artur Kast 1938 nach Oldenburg kam, waren die Novemberpogrome im ganzen Deutschen Reich nicht lange her. Die in Brand gesteckte Synagoge in der Oldenburger Peterstraße lag kaum fünf Minuten Fußweg von seiner späteren Wohnung entfernt. Hat Kast auch hier Spuren dokumentiert? Wo sind die Bilder aus seinen ersten Oldenburger Jahren? Warum hat er so viele jüngere Aufnahmen zurückgelassen? Und was hat ihn überhaupt in den Süden gezogen, Ende der 1960er?

Artur Kasts Biografie ist bislang bestenfalls bruchstückhaft bekannt. Die Arbeitsgruppe von Werkstattfilm weiß, dass er 31 Jahre lang in Oldenburg gemeldet war, allein lebte, wohl ledig gewesen ist. Das ist ein Anfang. Farschid Ali Zahedi hofft, dass sich weitere Informationen recherchieren lassen werden, um die Person und ihr Leben, ihre Geschichte noch greifbarer werden zu lassen. Und vielleicht ja auch tiefere Einblicke zu ermöglichen: in die zunehmend weiter entfernten Zeiten von Nationalsozialismus und Nachkriegsdeutschland.

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