Initiative für diversere Parlamente: Potenzial für Solidarität

Wie können Volks­ver­tre­te­r:in­nen diverser werden? Die Initiative Brand New Bundestag unterstützt aktivistisch orientierte Kan­di­da­t:in­nen.

Edwin Greve

Will ins Berliner Abgeordnetenhaus: Edwin Greve wird unterstützt von Brand New Bundestag Foto: Jennifer Tuffor

BERLIN taz | Alexandra Ocasio-Cortez, ehemalige Barkeeperin und Lehrerin und heutiger Star der US-Linken, wurde 2019 zum ersten Mal ins Repräsentantenhaus der Vereinigten Staaten gewählt. In den Vorwahlen hatte sie einen altgedienten Parteigenossen ausgestochen, der sich derart siegessicher war, dass er zu einer öffentlichen Debatte mit AOC, wie sie auch genannt wird, nur eine Vertretung geschickt hatte.

Nach einem haushohen Sieg wurde die damals 28-Jährige, die puerto-ricanischer Abstammung ist und sich als demokratische Sozialistin bezeichnet, die jüngste Abgeordnete des Repräsentantenhauses.

Die Netflix-Doku „Knock Down the House“ begleitete AOC und vier weitere Kan­di­da­t:in­nen in ihrem Wahlkampf. Alle vier waren politische Quer­ein­stei­ge­r:in­nen und wurden von der Initiative Brand New Congress unterstützt. Im Jahr 2016 gegründet, ist das Ziel dieser Freiwilligenorganisation, junge, progressive Kan­di­da­t:in­nen bei ihren Kampagnen zu unterstützen und in den Kongress zu bringen: Mehr Frauen, mehr Angehörige von Minderheiten, mehr Menschen aus der Arbeiterklasse oder aus zivilgesellschaftlichen Bewegungen.

„Die Doku war der Startpunkt für uns“, sagt Eva-Maria Thurnhofer aus Köln, eine der vier Grün­de­r:in­nen der bundesweiten Initiative Brand New Bundestag, deren Vorbild Brand New Congress war. Thurnhofer selbst arbeitete damals in einem Projekt zu Regulierungsentwürfen der Finanzindustrie an der Deutschen Börse.

„Da habe ich verstanden, dass wahnsinnig viel davon abhängt, mit wem man auf politischer Ebene spricht“, sagt die 36-Jährige. „Das lässt sich auch auf andere Themen übertragen, die wir lösen müssen. Klimakrise, Transformation der Wirtschaft, Erstarken rechter Strukturen – die Luft brennt. Deshalb brauchen wir progressive Leute, die dem begegnen.“

Ilustration: Der Hintergrund ist in Regenbogenfarben gehalten. Im vordergrund eine einfache Zeichnung eines Regenbogens.

Während Konservative sich an Macht und Deutungshoheit klammern, kämpft das vielfältige Deutschland noch immer darum, in seiner Diversität bestehen und sich entfalten zu dürfen. Egal ob die LGBTIQ*-Community oder People of Colour. Menschen, die aufgrund einer Behinderung oder ihres Alters diskriminiert werden. Können sie bei der Bundestagswahl im September gemeinsam mit ihren Verbündeten Politik und Gesellschaft langfristig und grundlegend verändern? Die taz-Themenwoche zu Diversität.

Thurnhofer setzte sich mit drei weiteren Menschen zusammen, die ähnlich dachten. Klar, da gab es Organisationen und Initiativen, die sie alle gut fanden: Fridays for Future, die Seebrücke oder Unteilbar. „Aber in konkrete politische Handlung hat sich wenig übersetzt“, sagt Thurnhofer.

„Unsere Idee war: Wir wollen mutige und zukunftsorientierte Menschen, die sich zivilgesellschaftlich engagieren, dabei unterstützen, politisch erfolgreich zu sein. Dann können sie ihr Wissen und ihre Perspektiven in die parlamentarische Politik tragen.“

Thurnhofer und ihre Mit­strei­te­r:in­nen erarbeiteten vier Themenblöcke, die ihrer Ansicht nach für eine progressive Politik überparteilich zentral sind: Das 1,5-Grad-Ziel und eine Verkehrswende in der Klimapolitik, ein solidarisches Europa, nachhaltiges Wirtschaften und soziale Gerechtigkeit.

Im Selbstverständnis ist außerdem Diversität verankert: „Gleichstellung ist fürs Klima genauso zentral wie für soziale Gerechtigkeit oder europäische Solidarität“, sagt Thurnhofer.

Anfang 2020 stellten die In­itia­to­r:in­nen eine sechsköpfige Jury zusammen und starteten einen Aufruf in den sozialen Medien: Kennt ihr Menschen, von denen ihr euch gern im Bundestag vertreten sehen würdet? 120 Nominierte wurden gefunden, mehr als die Hälfte waren Frauen. Nach einem Auswahlprozess blieben zehn Kan­di­ta­t:in­nen übrig.

Margaux Erdmann

Margaux Erdmann Foto: Dajana Düring

Darunter sind Armand Zorn, der digital- und wirtschaftspolitisch aktiv ist und für die SPD kandidiert. Oder Lu Yen Roloff, die sich bei Extinction Rebellion engagiert und parteilos antritt. Oder Margaux Erdmann, die die Seebrücke mitbegründet hat und für die Grünen in den Bundestag will.

Und da wäre noch Edwin Greve. Greve, 28, ist insofern ein spezieller Kandidat, als er gar nicht für den Bundestag, sondern fürs Berliner Abgeordnetenhaus kandidiert, für das am selben Tag wie für den Bundestag gewählt wird.

Ansonsten aber entspricht er genau der Person, die Brand New Bundestag unterstützen will: Seit Jahren ist der Berliner in aktivistischen Kontexten unterwegs, so beim Verein Gladt, einer Selbstorganisation queerer Menschen, die sich gegen Rassismus, Trans-, Homo- und Behindertenfeindlichkeit einsetzt. Greve selbst ist trans, hat Migrationshintergrund und eine sichtbare Behinderung.

Auch jenseits von Brand New Bundestag, sagt Greve, habe er schon länger darüber nachgedacht, in die institutionelle Politik zu gehen und zu den Themen zu arbeiten, die ihm am Herzen liegen: Beteiligung, Mobilität, Bildung und Wohnraum.

„Es braucht mehr Menschen mit Diskriminierungserfahrung in Parlamenten, die zeigen können, was nicht gut funktioniert“, sagt er. „Beteiligung heißt, dass Menschen, die von Problemen betroffen sind und sich damit auskennen, diese Probleme auch lösen.“

Armand Zorn

Armand Zorn Foto: privat

Greve, der als politischer Referent beim Berliner Migrationsrat arbeitet, wurde von einer ehemaligen Kollegin nominiert. Er nahm am Bewerbungsverfahren inklusive einer Art Assessment Center mit Einzelgespräch und Gruppendiskussion teil – „und dann war es auf einmal real“.

Heute kandidiert er als Direktkandidat im Berliner Bezirk Neukölln für die Kleinpartei Die Urbanen, die von Hip-Hop-Aktivist:innen gegründet wurde. Er selbst habe mit Hip-Hop zwar nichts zu tun, sagt er. Er teile aber die Grundidee, „Menschen zu Wort kommen zu lassen, die ausgeschlossen werden – und Politik vom Rand her denken“.

Brand New Bundestag unterstützt Greve bei seiner Kandidatur: Es gab ein Crowdfunding, von dem unter anderem die Webdesignerin bezahlt wurde, Beratung in strategischen Fragen, die Vermittlung von Presseterminen und Interviews. Auch Treffen mit den anderen Kan­di­da­t:in­nen fanden statt. „Es ist total interessant mitzubekommen, woran die anderen gerade so arbeiten“, sagt Greve. „Und es bringt einem was für den eigenen Wahlkampf.“

Der findet momentan noch vorwiegend im Netz statt. Greve zählt zur Covid-19-Risikogruppe, hat seine zweite Impfung aber erst kürzlich bekommen. Bisher also schreibt er vor allem Texte, nimmt an Podiumsdiskussionen teil – und nach und nach kommen auch erste Termine auf der Straße hinzu.

„Mein Eindruck ist: Die Leute reagieren offen und aufgeschlossen“, sagt Greve. „Möglicherweise bringen mir viele, die sich nicht gehört fühlen, einen gewissen Vertrauensvorschuss entgegen – weil sie wissen, dass verschiedene Ausschlüsse miteinander zusammenhängen.“ Das sei, worauf er baue: „Da gibt es Potenzial für Solidarität.“

Fast 200 Personen arbeiten bei Brand New Bundestag momentan bundesweit daran, Kan­di­da­t:in­nen wie Greve zu beraten und zu unterstützen. Eine Grundfinanzierung für den Aufbau von Strukturen und die Angebote für die Kan­di­da­t:in­nen kommen von Stiftungen und Crowdfundingkampagnen – die Arbeit an sich allerdings ist ehrenamtlich.

„Ganz offensichtlich sind viele Menschen motiviert, an politischen Veränderungen mitzuarbeiten, wissen aber oft nicht, wie und wo sie das kanalisieren sollen“, sagt Eva-Maria Thurnhofer. „Viele fühlen sich da von unserem Graswurzelansatz angesprochen.“

Lu Yen Roloff

Lu Yen Roloff Foto: Manuela Clemens

Wie viele Kan­di­da­t:in­nen von Brand New Bundestag es im September tatsächlich ins Abgeordnetenhaus oder in den Bundestag schaffen werden, sagt Thurnhofer, sei momentan nicht absehbar. „Mindestens ei­ne:r – das war unser Ziel.“ Edwin Greve etwa rechnet sich durchaus Chancen aus: „Täte ich das nicht, wäre das alles gerade viel zu viel Arbeit“, sagt er. Rund drei Tage die Woche sei er derzeit mit seiner Kandidatur beschäftigt – neben der Lohnarbeit.

Und wenn der September vorbei ist? „Die Bundestagswahl ist erst der Anfang“, sagt Thurnhofer. „Wir sind dabei, ein Netzwerk aufzubauen, das auf gemeinsame Ziele hinarbeitet. Wenn neue und progressive Kan­di­da­t:in­nen wissen, dass sie eine Gemeinschaft wie unsere im Rücken haben, hat das einen großen Stellenwert.“

Neben der Bundes- und Landesebene sollen künftig auch auf kommunaler Ebene Kan­di­da­t:in­nen unterstützt werden. „Auch und gerade dort spielen Überparteilichkeit und die Verknüpfung mit der Zivilgesellschaft eine große Rolle“, sagt Thurnhofer. „Wir glauben, dass zukunftsweisende Politik von unten kommt.“

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