Die Wahrheit: Am Nullpunkt der beringten Hölle
Beeindruckendes Absinkverhalten: Betrachtungen zum olympischen Geschehen und seinen Vermittlern im Fernsehen.
Dass der Zweck Olympischer Spiele nicht zuletzt darin besteht, dem Fernsehen die Gelegenheit zu geben, die weltverschlingende Allgegenwart des Hochleistungssports vermöge einer gut zweiwöchigen Bild- und Wortdauerkanonade zu demonstrieren, dürfte bekannt sein. Zwingend einher geht damit die Regression der Wirklichkeitswahrnehmung auf die Leitideen der Disziplin, des Kampfes und der angeblich naturgegebenen Konkurrenz. Dass in der Fauna – Kropotkin hat es, das darwinistische Modell des Lebens konterkarierend, belegt – in der Regel das Prinzip der „gegenseitigen Hilfe“ obwaltet, weiß niemand mehr – oder soll kein Mensch mehr wissen. Man dächte da ja an libertären Sozialismus und andere Schweinereien.
In dieser medialen Gegenwartshölle, in der Vitalität weitgehend in stumpfsinnigen Rollenbildern beschworen wird, sinken Habitus und Sprache – ebenfalls notwendigerweise – auf Halbstarkenniveau oder auf den Nullpunkt herab.
Okay, „extrem diskutabel“ (Bernd Schmelzer, ARD) ist, warum die Fußballkommentatoren in Tokio um Längen besser als die Peiniger waren, die uns während der EM schikanierten, und warum mit Lea Wagner eine Field-Reporterin auftauchte, die dem Auswahltrainer Stefan Kuntz nach dem 2:4 gegen Brasilien eine makellos geformte, vielschichtige Frage stellte. Vermutlich liegt es daran, dass die Subalternen und daher intellektuell weniger korrumpierten und ramponierten Leute nur randürfen, wenn kaum jemand zuguckt. Das bestätigt sich bei den Randsportarten. Die begleiten jene Unbekannten, die plastisch und flüssig zu parlieren vermögen. Michael Kreutz goutiert beim Tischtennis eine „Rückhandbanane“, Julius Hilfenhaus – medaillenverdächtiger Name – meint während des herrlich undurchschaubaren Säbelfechtens: „Nicht immer bekommt der, der am lautesten schreit, den Treffer, aber manchmal hilft es.“
Überhaupt sollte die Gesellschaft, wenn schon „Sportifizierung“ (Adorno), zum Beispiel wie eine Mischung aus Badminton und Luftpistolenschießen eingerichtet sein: hie die elegante und virtuose Nutzung der Gesetze der Physik, da: gar nix – außer Arm heben, gucken, Zeigerfinger bewegen. Kein Schweiß, dafür charakterliche Reife: „Pistolenschützen sind ja nicht für Ekstase bekannt. Das sehen Sie auch an den Gesichtern hier.“ (Tibor Meingast, ZDF)
Sweeter Schmarren
Aber auf den quotenträchtigen Hauptschauplätzen: geistiger Ruin in anbetungswürdiger Konsequenz. ZDF-Moderatorin Katrin Müller-Hohenstein findet irgendeinen infantilen Tweet-Schmarren „so sweet“. Jessy Wellmer (ARD), die unermesslich blühende Jeanne d’Arc der Demontage der menschlichen Rede, trägt ungehemmte Gratisaufmüpfigkeit signalisierende Turnschuhe mit Regenbogenemblem und fragt ihre Allround-Experten Julius Brink (ehemals Beachvolleyball) und Frank Busemann (einst Zehnkampf), die von Badewannenweitwerfen bis Sandkörnerzählen offenbar sämtliche Disziplinen, die gerade dahermarschieren, zu beurteilen vermögen: „Wofür kann euer Feuer sich entfachen?“ Antwort Brink: „Ich find’s für den Sport einfach cool, dass in Deutschland wieder so viel Sport gezeigt wird.“ Das ist sie, die Message: Lasst uns so viel Shit wie möglich in den Äther feuern, zur hypokritischen Feier der „olympiadischen Leistungen“ (ARD-Olympiasongwriter Max Mutzke).
Für die Aufgabe, den Untergang des deutschen (Sport-)Fernsehens zu illustrieren, optimal vorbereitet ist der unbezwingbare Béla Réthy. Schon während der vierstündigen Eröffnungsfeier der „Olympiade“ (ARD-Videotext; sie wissen gar nichts mehr), in deren Rahmen die tatsächlich bewundernswürdige Jazzpianistin Hiromi Uehara auftrat, erspähte er einen „Chefstepper“, der „die Musik selbst gehämmert“ habe, betete mit Hilfe seiner schlauen Zettel tapfer Ländernamen herunter, attestierte einem nordmazedonischen Taekwondo-Kämpfer, er habe es „geschafft, sich eine olympische Norm zu sichern“, enthüllte über den Tenno: „Er hat sich da richtig weit aus dem Ton gelegt“, und profilierte sich als Linguist neuester Couleur: „‚Emoji‘ heißt ‚Bildschrift‘.“ (Früher war es das Piktogramm, das übersetzt „Bildschrift“ heißt.)
Dito als Hockeykommentator greift er zuverlässig zum falschen Genus und serviert uns eminente Erläuterungen, etwa in Sachen Schiedsrichterkamera: „Wenn er sich bewegt, wackelt das [Bild], wenn er steht, geht’s.“ Und wenn kein Wind geht, rascheln die Blätter nicht.
Sein Pendant in diesem TV-Riesenramschladen, die ARD-Heulboje Tom Bartels, schwemmt mitten in der Nacht beim Schwimmen wie eh und je schwallend die letzten Erinnerungen an vor ein paar Jahren ab und an (Thomas Wark!) noch vorfindlichen sprachlichen Takt weg. Ein Endlauf sei „definitiv megainteressant“, er sinniert, ob der Athlet Henning Mühlleitner „jetzt meganervös“ sei, kurz darauf ist der „an seiner absoluten Bestzeit dran“, und am Ende „powert er noch mal richtig“.
Aufgemotzte Modewörter
Nahezu sämtliche Damen und Herren, die die populären Disziplinen übertragen, legen ein beeindruckendes „Absinkverhalten“ (Eurosport1) an den Tag. Den restringierten Code, den der Sprachwissenschaftler Basil Bernstein bei den sozial Abgehängten beobachtet hatte, haben sie, aufgemotzt mit den immer gleichen idiotischen Modewörtern, restlos verinnerlicht. Claudia Neumann („geschmeidig warm“, „Ballbehandlung höchst geschmeidig“) geht beispielhaft mit der Schrotflinte auf die Sprache los und ballert alles Störende weg. Übrig bleiben amputierte Sätze: „Kontrolle zeigt ein Handspiel.“ – „Brasilianerinnen bleiben aber unaufgeregt.“ – „Ball scheint gesichert.“ Woraus laut Alexander Bommes folgt: „Natürlich gilt es da, total Fokus zu behalten.“
Den Rest gab einem am Sonntagnachmittag die vom öffentlich-rechtlichen Wegwerf-Fernsehen „supportete“ Stephanie Baczyk (ARD). Bei Saudi-Arabien gegen Deutschland flogen einem die „rausgehauenen“ „Dinger“ nur so um die müden Ohren („Hat sich gleich mal überlegt, welche Linie er [der Schiedsrichter] raushaut“, „der [ein Abwehrspieler] haut da einen Weg nach dem anderen raus“), praktisch alles andere war „geil“: „Was war das bitte für ein geiler Fight?!“ – „Was für ’n geiles Tor!“ – „Geiles Ding!“
Olympia im Deutsch-TV „muss so ’n Boost für den Kopf sein“ (Baczyk)? Nö. Erschöpft schließen wir uns dem ZDF-Moderator Rudi Cerne an: „Das können wir uns knicken und hier abhaken.“
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Exklusiv: RAF-Verdächtiger Garweg
Meldung aus dem Untergrund
Wahlprogramm von CDU und CSU
Der Zeitgeist als Wählerklient
Keine Konsequenzen für Rechtsbruch
Vor dem Gesetz sind Vermieter gleicher
Anschlag in Magdeburg
Auto rast in eine Menschenmenge auf dem Weihnachtsmarkt
Anschlag auf Magdeburger Weihnachtsmarkt
Vieles deutet auf radikal-islamfeindlichen Hintergrund hin
Russische Männer auf TikTok
Bloß nicht zum Vorbild nehmen