: Der Amtsweg zur Vernichtung
Bremer Shakespeare-Company untersucht die Verfolgung von Sinti und Roma um 1900
Szenische Lesung „‚... und wohin jetzt?‘ – Die Zigeunerpolitik im Deutschen Kaiserreich und im United Kingdom zu Beginn des 20. Jahrhunderts“. Nächste Aufführung: 5. Juli, 19.30 Uhr, Theater am Leibnizplatz
Von Benno Schirrmeister
Herb ist der Abend, der einen Einblick in die Verfolgungsgeschichte der Sinti*ze und Rom*nja verschafft, eine Belastung für Zuschauer*innen und Spieler*innen, notwendig und absolut sehenswert. Dabei sind Vergleich und Zusammenspiel der Minderheitenpolitik von wilhelminischem Kaiserreich und frühem postviktorianischen Zeitalter in England, um die es in „… und wohin jetzt?“ im Bremer Theater am Leibnizplatz geht, erkennbar sperrige Themen.
Und auch das Konzept der szenischen Lesung tut wenig – ja, fast noch weniger als frühere Produktionen der Reihe „Aus den Akten auf die Bühne“ – dafür, sie zu einem Kunstgenuss zu verwandeln. „Ein Vergnügen ist es nicht“, hatte Peter Lüchinger, Ensemblesprecher der Bremer Shakespeare Company, das Publikum am Premierenabend gewarnt.
Seit 14 Jahren bringt „Aus den Akten auf die Bühne“ Ergebnisse vor allem regionalhistorischer Forschung an der Shakespeare Company unters Publikum – verdienstvoll, erfolgreich, aber ohne experimentellen Anspruch. Ästhetisch kühn war dokumentarisches Theater, als Erwin Piscator um 1918 zunächst mit Arbeiter*innen und für Arbeiter*innen wichtige Parteitagsreden von Rosa Luxemburg und Karl Liebknecht aufführte. Aber sein szenischer Zugriff – ohne Requisiten, Kostüme, Illusionsmaschine – und der Verzicht auf Literarisierung waren trotz allem weitaus kulinarischer.
Lüchinger spielt mit, vor allem aber ist sein Job, das von Geschichts-Student*innen der Uni Bremen unter Leitung von Eva Schöck-Quinteros erschlossene Quellenmaterial für die Präsentation einzurichten und bei dieser dann Regie zu führen. Tatsächlich radikalisiert er mit „… und wohin jetzt?“ den Ansatz. Die Handlung: Vier Akteur*innen schreiten, Mappen unterm Arm, beanzugt, über die Bühne. Deren Raum gliedern rot-weiße Barrieren, die vom Schnürboden hängen: Die Ensemblemitglieder deuten durch Wendungen an, dass man sich ihn als Labyrinth vorstellen muss. Auf Hockern nehmen sie Platz. Dann wird vorgetragen.
Nach einer Weile erheben sie sich erneut, irren gewichtig durchs Halbdunkel, setzen sich, und lesen weiter. Was erklingt, ist aber keine Geschichte. Es ist die nie fürs Klingen ersonnene Sprache der Registratur, die vergessen macht, dass sie Menschenleben zum Inhalt hat: Sinti*ze und Rom*nja werden überwacht, ihre Wege behördlich kontrolliert, erkennungsdienstliche Routinen für sie erfunden, Nachrichtendienste gegründet, um Routen zu verfolgen, die von den Gegenständen der Verfolgung genommen werden, um der Verfolgung auszuweichen; um auf neue Verfolgung zu stoßen: aus den Niederlanden nach England nach Hamburg nach England.
Beobachtung und Protokollierung schaffen ein Phänomen, für das es jenseits dieser administrativen Praktiken keine Belege gibt: eine Plage. Die breitet sich aus, weil die Ämter über staatliche Grenzen hinweg kommunizieren und anordnen: Sie fordern die feste Ansiedlung und verhindern ebendie; fordern auch den Nachweis der Erwerbstätigkeit und verhindern die Erteilung von Gewerbescheinen, fordern Papiere und Identitätsnachweise – glauben aber nicht daran. Nur einmal kommt eine Frau aus Bremen zu Wort, eine Witwe mit drei Kindern, die sich in einem ungelenken Brief gegen die angekündigte Abschiebung wehrt: Sie sei doch Preußin, fleht sie in ihrer Eingabe „an den gütigen Herrn Senat“. Aber das kann ja jede*r sagen. Dass sie die Miete im Voraus bezahlt hat – egal. Ihre Staatsbürgerschaft sei zweifelhaft. Witwe will sie sein? Quatsch. Da fällt dem Senat auch noch was ein.
Das Mahlwerk der Bürokratie, eine Höllenmaschine unerbittlich wie eine Tragödie, reduziert Menschen zu Objekten, belanglos und lästig wie Staub. Der Porajmos, die Vernichtung der europäischen Sinti*ze und Rom*nja, hat, so singulär wie die Shoah, lange vor der Machtübergabe an die Nazis, lange vor dem Auschwitz-Erlass begonnen. Ob er vorbei ist und bloße Geschichte: Diese Frage beantwortet der Abend nicht – er stellt sie.
40.000 mal Danke!
40.000 Menschen beteiligen sich bei taz zahl ich – weil unabhängiger, kritischer Journalismus in diesen Zeiten gebraucht wird. Weil es die taz braucht. Dafür möchten wir uns herzlich bedanken! Ihre Solidarität sorgt dafür, dass taz.de für alle frei zugänglich bleibt. Denn wir verstehen Journalismus nicht nur als Ware, sondern als öffentliches Gut. Was uns besonders macht? Sie, unsere Leser*innen. Sie wissen: Zahlen muss niemand, aber guter Journalismus hat seinen Preis. Und immer mehr machen mit und entscheiden sich für eine freiwillige Unterstützung der taz! Dieser Schub trägt uns gemeinsam in die Zukunft. Wir suchen auch weiterhin Unterstützung: suchen wir auch weiterhin Ihre Unterstützung. Setzen auch Sie jetzt ein Zeichen für kritischen Journalismus – schon mit 5 Euro im Monat! Jetzt unterstützen