Streit um KZ-Gelände in Hersbruck: Der Grund der Erinnerung

Ist Boden, auf dem einst Tausende Opfer der Nazis starben, heilig? Eine Grundsatzfrage, an der sich in Hersbruck derzeit die Geister scheiden.

Thomas Wrensch vor dem Kubus, der an die KZ-Außenstelle Hersbruck erinnert

Thomas Wrensch vor dem Kubus, der an die KZ-Außenstelle Hersbruck erinnert Foto: Dominik Baur

HERSBRUCK taz | Es ist ja nichts da. Keine Baracken. Keine Wachtürme. Kein Krematorium. Nichts. Zumindest nichts, was man sehen könnte. Was da ist: die Erinnerung, das Wissen, was hier einmal war. Das Wissen um die Verbrechen, die hier begangen wurden. Hier in der KZ-Außenstelle Hersbruck. Und gerade diese Diskrepanz zwischen dem, was einmal war, und dem, was ist, sorgt in dem mittelfränkischen Städtchen gerade für Missstimmung. Konkret geht es darum, dass das Nichts nun bebaut werden soll.

Einer der Missgestimmten ist Thomas Wrensch. Der Pfarrer und Religionslehrer im Ruhestand ist Vorsitzender eines Vereins mit dem etwas sperrigen Namen Dokumentationsstätte Konzentrationslager Hersbruck, den viele daher schlicht „Doku-Verein“ nennen, und führt einen zu dem ehemaligen KZ-Gelände. Unterwegs zeigt Wrensch auf eine Anhöhe, die man zwischen zwei Hausdächern erkennen kann. „Das da hinten ist die Houbirg“, sagt er.

Über 9.000 Menschen haben die Nazis nach Hersbruck gebracht, um in der Houbirg Stollen für eine unterirdische Motorenfabrik für Jagdflugzeuge zu bauen. Bis zu 6.000 Menschen befanden sich gleichzeitig in dem für 2.000 Häftlinge angelegten Lager. Nur 3000 bis 4.000 von ihnen haben Schätzungen zufolge überlebt. Die anderen starben aufgrund der unmenschlichen Bedingungen, unter denen sie arbeiten mussten, oder auf den sechs Todesmärschen, bei denen die Häftlinge kurz vor Kriegsende noch nach Dachau gebracht werden sollten.

Wrensch schiebt sein Fahrrad in eine Seitenstraße. Bis nach Happurg am Fuße der Houbirg, wo die Stolleneingänge waren, wären es zwar Luftlinie nur 1,5 Kilometer gewesen, erklärt Wrensch, da es aber keine Brücke über die Pegnitz gab, mussten die Häftlinge einen Umweg gehen – fünf Kilometer lang. „Die sind sie marschiert. Durch die Stadt, wahrgenommen von der Bevölkerung.“

Bloß nicht wie Dachau werden

Hersbruck war ein Außenlager des Konzentrationslagers Flossenbürg. Doch weil es so groß war, wird es oft als eigenständiges KZ betrachtet, als das drittgrößte süddeutsche Konzentrationslager nach Dachau und Flossenbürg. Die ersten Häftlinge kamen im Frühjahr 1944 hierher, politisch Verfolgte, auch Juden. Menschen aus 23 Nationen. Das Lager bestand bis Anfang April 1945, als die SS es angesichts der anrückenden US-Streitkräfte räumte.

Hersbruck liegt nordöstlich von Nürnberg, in 15 Minuten ist man mit dem Zug in der Metropole. Historisch war das Städtchen nicht sonderlich auffällig – bis auf das KZ. Dessen Bau stieß damals nicht gerade auf den Widerstand der Hersbrucker Bevölkerung. „Hersbruck war eh braun“, sagt Wrensch, „das hat damals ganz gut reingepasst.“ Und Geld habe das Nazi-Projekt der Stadt natürlich auch gebracht. Keine schöne Geschichte.

So wollte man auch nach dem Krieg lange Zeit nichts mehr davon wissen. Bloß nicht in den Köpfen der Menschen zum Synonym für ein KZ werden, so wie Dachau. Die Baracken wurden abgerissen, ein großer Teil des Geländes mit Wohnungen bebaut. Noch in den Achtzigern soll der Gymnasiast Gerd Vanselow, der in einer Facharbeit die Geschichte des KZs aufgearbeitet hat, als Nestbeschmutzer beschimpft worden sein.

Noch wird auf dem Gelände Tennis gespielt

In den letzten Jahrzehnten hat sich das Klima dann entscheidend geändert. Heute ist man sich in Hersbruck der dunklen Seite der Geschichte sehr bewusst, bemüht sich um einen angemessenen Umgang damit. Das sagt auch Thomas Wrensch. Nur wenn es ums Thema Bebauung gehe, werde es halt immer schwierig.

Es geht vorbei an Schrebergärten und dem Rosengarten, wo auch eine Skulptur des letzten KZ-Überlebenden Vittore Bocchetta an die Opfer erinnert, dann stellt Wrensch sein Fahrrad ab. Er steht nun am Rande eines Parkplatzes. Daneben zwei Tennisplätze. Ein recht trostloser Platz. Hier war der Appellplatz des Lagers. An diesem Ort soll nun ein Altenheim der Diakoneo gebaut werden. Vier Stockwerke, 110 Betten. Ende Juli hat der Bauausschuss dem Projekt sein Okay gegeben. Der Doku-Verein erfuhr daraus aus der Zeitung. Dass es mit dem Bauland eine besondere Bewandtnis hat, kam in dem Bericht nicht zur Sprache.

Die Antwort des Doku-Vereins kam in Form einer Stellungnahme auf der eigenen Homepage: Nicht einverstanden sei man mit den Plänen. Die Stadt, so der Vorwurf, wolle den letzten noch freien Teil des ehemaligen KZ überbauen, ohne dabei „das Erinnern und Gedenken an die Opfer der Schreckensherrschaft des Nationalsozialismus zu erhalten oder zu fördern“. Die Stadt folge der Logik einer geschichtslosen Bebauung und verfehle alle Ziele der gegenwärtigen Erinnerungskultur.

„Das Gedenken wird an die Seite geschoben“

Auf der anderen Seite des Geländes macht sich ein hellgrüner Bau breit, der mit seinem riesigen Vordach etwas wie eine überdimensionierte Tankstelle aussieht. Das Finanzamt. 140 Menschen arbeiten hier. 2009 hat es der Freistaat hier errichtet. Und zuvor das letzte steinerne Relikt des Lagers, die ehemalige SS-Kommandatur, abgerissen. Ein Fehler, wie heute mancher meint.

Das Gedenken, ärgert sich nun erneut der Doku-Verein, werde „ausgegrenzt und an die Seite geschoben“. Gemeint ist damit vor allem der Dokumentationsort, der 2016 am Rande des Geländes errichtet wurde. Das kleine schwarze Gebäude hat die Form eines trapezförmigen Prismas. Eine entsprechend große geometrische Kulanz vorausgesetzt, könnte es einen ganz entfernt an einen Würfel erinnern. Den schwarzen Kubus nennen die Hersbrucker deshalb den Dokumentationsort. In seinem Inneren werden in einem 360-Grad-Panorama die heutige Umgebung mit dem ehemaligen KZ kontrastiert.

Auf einen Tisch sollten zudem die Namen nahezu aller Häftlinge projiziert werden – mit 90 exemplarischen Kurzbios. Sollten. Die Projektion funktioniert schon seit Monaten nicht mehr. In diesen Kubus, so die Befürchtung des Vereins, soll nun die gesammelte Erinnerung an das KZ gepackt werden – auf dass sie andernorts nicht störe.

Auch Robert Ilg ist verstimmt, versteht seine Hersbrucker Welt nicht mehr. Die Stellungnahme des Doku-Vereins hat ihn merklich getroffen. Der Bürgermeister sitzt in seinem Amtszimmer und schüttelt den Kopf. Draußen bringen Arbeiter von einer Hebebühne aus gerade die Weihnachtsdekoration an der Fassade des Rathauses an. Man habe doch immer gut mit dem Verein zusammengearbeitet, erzählt Ilg. Vor dessen Stellungnahme habe es zwei Gespräche mit Vertretern des Vereins gegeben. Er habe zur Kenntnis genommen, dass da noch offene Fragen und der Wunsch nach Mitgestaltung seien – was er auch sehr ernst nehme. „Ich hatte gedacht, wir hätten in den Gesprächen einen Weg definiert, den wir gemeinsam gehen können.“ Es sei ja auch nichts im Verborgenen vorbereitet worden. Der gesamte Planungsprozess sei öffentlich debattiert worden.

„Allmächd, so groß war das“

Es hätte, so Ilg, gute 20 Jahre Gelegenheit gegeben, sich mit dem Thema der weiteren Veränderung des Geländes auseinanderzusetzen. Auch bei dem Bau des Finanzamts habe er diese Vehemenz nicht verspürt. „Und ich persönlich halte es für würdevoller, wenn dort Menschen mit Betreuungsbedarf Wohnraum gegeben wird, als wenn dort Tennis gespielt wird.“

Ähnlich sehen das auch Karl Freller und Jörg Skriebeleit – zwei, die in Sachen Erinnerungskultur zu den wichtigsten bayerischen Wortführern zählen. Freller ist Direktor der Stiftung Bayerische Gedenkstätten und Vizepräsident des Landtags, Skriebeleit leitet die KZ-Gedenkstätte Flossenbürg. Entscheidend sei, sagen beide, dass es auf dem Gelände keinerlei Elemente aus dem KZ mehr gebe. Ein Altenheim auf dem ehemaligen Appellplatz? Damit haben beide kein Problem. Allerdings, findet Freller, müsse man die besondere Bedeutung dieses Grundstücks in der Planung des Baus schon berücksichtigen.

Dafür hat der CSU-Politiker auch schon zwei ganz konkrete Vorschläge: Zum einen sollte Diakoneo das Heim doch nach einem oder mehreren der Häftlinge benennen. Zum anderen wünscht sich Freller an einer gut frequentierten Stelle am Rande des Geländes ein wetterfestes, dreidimensionales Modell der Anlage, das erkennen lässt, wo und wie groß das KZ war: „Damit die riesige Dimension erkennbar wird. Damit die Leute, die vorbeigehen, neugierig werden und sagen: Allmächd, so groß war das.“

Doch ist es wirklich so einfach, der besonderen Geschichte dieses Ortes gerecht zu werden? Immer wieder steht da das Argument des heiligen Bodens im Raum, vorgebracht auch von Mitgliedern des Doku-Vereins. Auf diesem Boden seien Menschen gestorben, heißt es dann, und zwar massenweise. Da verbiete sich jede Bebauung. Dem entgegnet Freller: „Wenn auf diesem – ich zitiere – heiligen Boden künftig Menschen am Lebensende gepflegt werden und man sich sorgenvoll um sie bemüht, ist das genau der Antipode zu dem, was dort vor 80 Jahren stattgefunden hat. Was kann es Besseres geben, als dass auf einer Fläche, wo hasserfüllt gemordet wurde, jetzt in Nächstenliebe gepflegt wird?“

Eine vielfältige Form der Erinnerungskultur

Auch für Jörg Skriebeleit kann es nicht das oberste Gebot sein, solche Flächen freizuhalten. „Wenn man diese Haltung anlegen würde, dann müsste man tausende von Orten, die ganz normal in Stadtgesellschaften oder Dörfer integriert sind, stilllegen und alle ehemaligen KZ-Außenlager, Kriegsgefangenenlager und Zwangsarbeiterlager zum heiligen Boden erklären. Theoretisch kann ich das nachvollziehen, ich halte es aber weder für moralisch geboten noch für praktisch umsetzbar.“

Bürgermeister Ilg hat nun einen Runden Tisch vorgeschlagen, an dem sich Doku-Verein, Stadt, Vertreter der Gedenkstättenarbeit sowie Diakoneo zusammensetzen sollen. Das Heim, so viel zeichnet sich bereits ab, wird kommen, aber man wird wohl wieder miteinander reden. Zum Beispiel darüber, wie trotz Bebauung die Erinnerung aufrechterhalten werden kann. Ein Interesse, das laut Ilg auch der Heimbetreiber verfolgt.

Ein erstes bereinigendes Gespräch zwischen Ilg und Wrensch hat mittlerweile schon stattgefunden. Dabei wies Wrensch auch daraufhin, dass sich sein Verein nicht grundsätzlich gegen eine Bebauung stelle.

Anstatt Flächen um jeden Preis freizuhalten, plädiert Jörg Skriebeleit ohnehin für eine vielfältige Form der Erinnerungskultur, die vor allem den Diskurs unterstützt. Das könne über Ortschronisten geschehen, über Kunstinitiativen oder Schülerprojekte. Und das sei viel schwieriger, als „irgendwelche Tabuzonen zu errichten“.

„Wir dürfen uns nicht auf einem zivilreligiösen Mantra des ‚Nie wieder!‘ ausruhen“, sagt der Kulturwissenschaftler, „sondern müssen dieses ‚Nie wieder!‘ ständig neu ins gesellschaftliche Bewusstsein bringen oder aus diesem herausholen. Sonst ist es nur Geschichte.“

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