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Tonne gegen Bulimie beim Lernen

Lehrerverbände kritisieren Niedersachsens Kultusminister Grant Hendrik Tonne für seine Warnung, Schü­le­r*in­nen sollte nicht auf den letzten Metern Stoff eingetrichtert werden. Der Minister hätten dem selbst vorbeugen können, finden sie

Von Eiken Bruhn

Niedersachsens Kultusminister warnt vor „Bulimie-Lernen“. Diese Schlagzeile schaffte es am Donnerstag in mehrere Medien. Zuvor hatte Grant Hendrik Tonne (SPD) der Neuen Osnabrücker Zeitung in einem Interview gesagt, es könne „nicht vorrangig darum gehen, jetzt komprimiert Wissen in die Köpfe der Kinder zu trichtern“. Und dass es falsch sei, jetzt in wenigen Wochen ein Schuljahr nachzuholen und mit hohem Druck und Tempo zu arbeiten. „Bulimie-Lernen“ sei „nicht nachhaltig“.

Manch einer und eine im Bundesland wird sich verwundert die Augen gerieben haben – so wie die Vorsitzende der Lehrergewerkschaft Erziehung und Wissenschaft (GEW), Laura Pooth. „Er hat recht damit, dass bulimisches Lernen“ – also viel Stoff auf einmal aufnehmen und auf Aufforderung wieder ausspucken – „niemand hilft“, sagte Pooth der taz. Aber wenn es dem Minister darum gehe, den Druck rauszunehmen, dann hätte er dazu im vergangenen Jahr viele Gelegenheiten gehabt – die er nicht ergriff.

„Wir haben ihn dazu aufgefordert, das Sitzenbleiben auszusetzen“, sagte Pooth – was Tonne nicht getan hat. Im vergangenen Jahr hatten einige Länder das Sitzenbleiben ausgesetzt, Niedersachsen nicht. Dabei ist in Bundesländern wie Bremen und Hamburg das Wiederholen einer Klasse seit einigen Jahren ohnehin nur noch freiwillig auf Antrag möglich.

Eine weitere Möglichkeit wäre gewesen, die neunten und zehnten Jahrgänge ohne Abschlussprüfungen zu entlassen. Das hätte Niedersachsen anders als beim Abitur im Alleingang regeln können. „Aber die Prüfungen wurden trotzdem geschrieben“, sagte Pooth.

Kritik kam am Donnerstag auch vom Verband Niedersächsischer Lehrkräfte. Er verwahrte sich gegen Tonnes Unterstellung, Lehrkräfte in Niedersachsen würden jetzt ihre Schü­le­r*in­nen auf den letzten Metern zu bulimischem Lernen animieren: „Sie kennen ihre Schülerinnen und Schüler am besten und gehen verantwortungsvoll situationsbezogen auf sie ein“, hieß es in einer Pressemitteilung. Und: „Wir erwarten von unserem Kultusminister zum neuen Schuljahr statt markiger Worte tatkräftige Unterstützung, zum Beispiel durch Einstellung genügend neuer Lehrkräfte und Unterstützungspersonal und weniger Vorschriften.“

Ähnlich sieht es die GEW-Vorsitzende Laura Pooth. „Wir hätten uns Rückhalt für Lehrer und Lehrerinnen gewünscht, damit die sich nicht unter Druck gesetzt fühlen.“ Die wenigsten würden trotz der Ausnahmesituation einfach so Leistungsnachweise einfordern – sondern weil sie versuchten, die staatlich vorgeschriebenen Prüfungsregelungen und Lehrpläne einzuhalten. „Sich dem zu widersetzen, erfordert einiges an Kraft und Mut“, sagte Pooth. Schließlich müssten sich Leh­re­r*in­nen immer auch vor Eltern rechtfertigen.

Erst vor vier Wochen hatten Schü­le­r*in­nen einen offenen Brief an den Kultusminister geschrieben, in dem sie ihn dazu aufforderten, Klassenarbeiten, Klausuren und sonstige verpflichtende Ersatzleistungen für die verbleibenden Wochen des Schuljahrs auszusetzen – mit Ausnahme der Prüfungen für Abschlussklassen. Die GEW hatte dies unterstützt. Es reiche nicht, wenn Minister Tonne „schöne Worte“ wie jetzt im Interview mache, sagte Pooth, „rechtlicher Rückhalt ist besser“.

Tonnes Pressesprecher wies die Kritik auf Nachfrage der taz zurück. Dem Minister sei es darum gegangen, Eltern und Schü­le­r*in­nen die Sorge zu nehmen, sie müssten jetzt noch ganz viel Stoff nachholen. „Das ist nicht die Hauptaufgabe von Schule“, sagte der Sprecher Sebastian Schumann, „der Minister wollte deutlich machen, dass das soziale Miteinander im Mittelpunkt von Schule steht.“

Zudem habe es eine Reihe von Erleichterungen für Schü­le­r*in­nen gegeben. So seien einige Klausuren nicht geschrieben worden, auch Prüfungsaufgaben seien an die Pandemie angepasst worden. Ganz auf Prüfungen zu verzichten, wäre falsch, sagte Schumacher. „Wir tun niemand einen Gefallen, wenn dem Abschluss ein Coronamakel anhaftet.“

Die GEW-Vorsitzende Pooth bedauerte, dass die Krise nicht als Chance begriffen wurde, Schule einmal ganz neu zu denken –und zum Beispiel ganz auf Noten zu verzichten.

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