Hamburger Opernfilm über Sophie Scholl: Herzzerreißende Erinnerung

An Hamburgs Staatsoper macht David Bösch aus der Kammeroper „Weiße Rose“ einen gelungenen Psycho-Collage-Comic-Film.

Sopranistin Marie-Dominique Ryckmanns und Bariton Michael Fischer in der Hamburger Neuinszenierung von "Weisse Rose"

Intensiv: Sopranistin Marie-Dominique Ryckmanns und Bariton Michael Fischer in „Weisse Rose“ Foto: Hamburgische Staatsoper

Nationalsozialismus, ermordeter Widerstand, Zweiter Weltkrieg, Shoah. So fragil wie klanglich raffiniert hat Udo Zimmermann dazu ein eindringliches Passionsduett komponiert für Hans und Sophie Scholl, die Ikonen des Antifa-Kampfes, in ihrer letzten Stunde vor der Guillotinierung durch die NS-Unrechtsjustiz: „Weiße Rose“ ist seine 1986 in Hamburg uraufgeführte Kammeroper betitelt. Regisseur David Bösch hat sie nun wiederum an der dortigen Staatsoper inszeniert – aber nicht als Bühnenstück, sondern als Comic-Verfilmung, als „Graphic Opera“.

Ein Aufreger! Denn andernorts wurde diese Seelenmusik als Bewusstseinsstrom-Soundtrack zur erschütternden Empörung zumeist im Stil eines tiefschwarzen Requiems serviert, basierend auf einem Libretto, für das Wolfgang Willaschek großenteils original Scholl’sche Brief- und Tagebuchaufzeichnungen collagiert.

Trivialisierung des Völkermords?

Nun mit einer bildmächtigen Erzählung denjenigen den Zugang zu erleichtern, denen Neue Musik fremd ist: Das provoziert Warnungen, wie sie spätestens seit den 1980er-Jahren bekannt sind, als „Maus – Die Geschichte eines Überlebenden“ vom US-amerikanischen Zeichner Art Spiegelman erschien, ein Comic über den Holocaust. Die Rede war von Trivialisierung und unangemessenen ironischen Brechungen.

Die suggestive Ästhetisierung des NS-Völkermordes oder das Bedienen heroisierender und dämonisierender Klischees wurde auch an vielen ähnlichen Projekten kritisiert. Aber es ist nun mal elementar für einen Comic, Sachverhalte zu vereinfachen, auch mal stark zu übertreiben – mit dem Ziel, den Stoff zu verdichten.

Im Übrigen funktioniert Theater von jeher selbst so: Jede Aufführung fiktionalisiert die Wirklichkeit, verändert sie also im Prozess ihrer Vergegenwärtigung auf der Bühne. An das reale Grauen kann, will, sollen weder Comicbuch noch Bühnenperformance herankommen – durch ihre Ausdrucksmittel aber vielleicht gerade umso stärker wirken.

Verlassen kann Bösch sich in Hamburg auf eine faszinierend intensive Präsenz von Sopranistin Marie-Dominique Ryckmanns und Bariton Michael Fischer. Die zwischen hilfloser Verstörung und großer Entschiedenheit changierende Darstellung der Protagonisten ist überzeugend, die intonationssichere Gesangsemphase ein Ereignis. Aufgenommen wurde das vorab zusammen mit Dirigent Nicolas André und 15 Instrumentalisten des Philharmonischen Staatsorchesters, sodass in den Schauspielszenen nun Playback gesungen wird.

Keine perfekte Illusion

Was die Kammeroper stets war und auch jetzt wieder ist: eine herzzerreißend klingende Erinnerung an Menschen, die aufgeklärt haben, Flugblätter verteilt, nicht geschwiegen und überhaupt Widerstand geleistet gegen politischen Terror und Krieg. Das wirkt bei Bösch umso glaubwürdiger, weil eben, anders als vielleicht im Hollywoodfilm, die Animationstricks und Bildmanipulationen nicht illusionistisch perfekt in die Aufnahmen integriert werden. Stattdessen wird das Gemachte der Szenen deutlich betont. Das erinnert formal und auch inhaltlich manchmal an die politischen Fotomontagen John Heartfields. Als Produktionslabor wurde dafür die „Opera Stabile“ genutzt, die Raumbühne der Staatsoper: Verschiedene Filmsets waren dort aufgebaut, die Animations- sowie Ausstattungskünstler Patrick Bannwart und Falko Herold betrieben ein Trickfilmstudio und eine Werkstatt – zum Basteln von all der Stabpuppenfiguren und Schattenspielobjekte.

Nach dem metallischen Knallen des Fallbeils als Ouvertüre kommen Hans und Sophie Scholl ins Bild: Von vorn betrachtet in grauen Kästen kauernd, von oben betrachtet in einen Bilderrahmen drapiert. Fliegende Kameraaugen und das Ineinanderblenden von Nahaufnahmen und Totalen entwickeln höchst elegant einen optischen Sog in die innere Bilderwelt der Geschwister, eine äußere Handlung wird nicht benötigt.

Zu erleben sind Traumsequenzen, todesängstliche Assoziationen, Hoffnungsblitze, Anklagen, private Erinnerungen – Hans und Sophie tanzen wie Bohemiens zu einem Billy-Holiday-Song – und realistischen Spielszenen, etwa Verhöre durch die Gestapo; oder wie Sophie „Freiheit“ auf eine Wand pinselt, und dies fix auch auf monumentalen Nazibauten prangt. Historische Verweise werden eingeblendet, etwa der Erlass zur systematischen Ermordung von Kranken, und es regnen grob gezeichnete Menschenleichen vor Industrieschornsteinen herab.

„Weiße Rose“ im NDR-Fernsehen: Sa, 22.30 Uhr; bis 6. 8. auch in der Arte-Mediathek online

Die ständigen Zeit-, Gedanken- und Themensprünge sind stets auch formale Sprünge. Eben sonnt sich Sophie noch in eisigem Neonröhrenlicht, schon streichen ihre nackten Zehen durch Blumenerde, ihrer Hand entwächst eine weiße Rose. Die Bildachse kippt, der Spielraum öffnet sich zum Himmel, an dem mit Hakenkreuzen versehene Flieger vorüberziehen; erneutes Kippen der Bildachse: Nun blickten wir hinab, Bomben prasseln auf die Sängerin nieder – Schnitt –, penetrieren ihren zum Schreien aufgerissenen Mund.

Sie sinkt in Zeitlupe nieder, Gitterstäbe werden vors Bild gemalt, im verzerrten Marschrhythmus stampfen Kriegerstiefel vorüber. „Überfall der Wehrmacht auf Polen September 1939“ ist eingeblendet. Sophie tanzt als Scherenschnittmädchen vorüber, wird erschossen – ins Schwarz-Weiß-Grau schleichen sich ein blutroter Fleck und ein Wolf mit Hakenkreuzaugen.

Abstraktion von der Bühnenkunst

Klingt pathetisch, ist pathetisch, auch simplifizierend. Wenn es nur diese Comicebene gäbe, könnten die erwähnten Trivialisierungs-Vorbehalte in Stellung gebracht werden. Aber das Comichafte ist hier nicht plump dem Werk aufgesetzt, um Aussagen auf den Punkt zu bringen.

Faszinierend gleichrangig ergänzen sich vielmehr Hoch- und Popkultur. Herausfordernd verschmelzen die dissonanten Klangballungen und feinen Vogelflötentöne der Musik mit hochgepeitschten, von Intervallsprüngen zerrissenen Gesangslinien, den mal surreal abdriftenden, mal agitierenden, mal liebessehnsüchtigen Texten sowie dem eindringlich theatralen Spiel des Gesangsduos und den zuspitzenden grafischen Elementen. Diese Produktion ist eines der besten Corona-Angebote der Theater im Norden, gerade weil sie komplett von der Bühnenkunst abstrahiert. Bösch wagt eine eigenständige videokünstlerische Inszenierung – und gewinnt.

Sein Werk endet dann gerade nicht mit dem Versuch, die zur Staatsdoktrin erhobene Bestialität historisch korrekt triumphieren zu lassen: Wider die Fakten propagiert es den Sieg des Guten. Im Führerbunker sind finale Szenen verortet: Ein Nazi-Tyrann erschießt sich, eine weiße Rose wächst aus seinem Kopf. Das ist kitschig, aber auch sympathisch; ein Verweis darauf, dass der Faschismus Nährboden sein könnte für Zivilcourage, individuelle Verantwortung und demokratiewilligen Widerstandsgeist – nicht nur 1943, sondern auch gegen alles, was aktuell so rechtspopulistisch, verschwörungsgläubig und polarisierend dahindumpft.

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