Kontroverse Videos von Mafiapaten: Schuld und Unterhaltung

Im Internet wirft der türkische Mafiapate Sedat Peker der Regierung Korruption vor. Der Kultstatus der Videos ist Ausdruck der Verzweiflung im Land.

Der türkische Mafiapate Sedat Peker ist auf einem Handy in einem seiner Youtube-Videos zu sehen

Erhebt auf Youtube schwere Vorwürfe gegen Regierungsmitglieder: Sedat Peker Foto: Ozan Kose/afp

Weil der türkische Mafiapate Sedat Peker mal wieder ein Youtube-Video veröffentlicht hat, saßen die Menschen in der Türkei am Sonntag schon frühmorgens an ihren Endgeräten. Peker ist der landesweit bekannte Kriminelle, über den internationale Medien, darunter auch die taz, berichten. In seinen Videos erhebt er schwere Vorwürfe gegen ehemalige und gegenwärtige Regierungsmitglieder: Drogengeschäfte, Mord, Vergewaltigung, Verwicklungen in organisierte Kriminalität.

Er beschuldigt unter anderem den aktuellen Innenminister Süleyman Soy­lu und den ehemaligen Innenminister Mehmet Ağar. Die 8. Folge der Peker-Videos von Sonntag hatte Montagvormittag schon über 10 Millionen Klicks. Diesmal geht es um mutmaßliche illegale Waffenlieferungen an die Dschihadisten der Al-Nusra-Front in Syrien 2015. Laut Peker, der angibt, selbst involviert gewesen zu sein, soll diese eine paramilitärische Organisation namens Sadat organisiert haben. Der Journalist Can Dündar hatte damals über Waffenlieferungen berichtet. Er wurde anschließend verurteilt und musste ins Ausland flüchten.

Peker wirft den Namen Metin Kıratlı ein, ein hoher Verwaltungsbeamter im Präsidialamt, und verweist indirekt auf Präsident Recep Tayyip Erdoğan. Erstmals adressiert er ihn auch direkt: „In der nächsten Folge sprechen wir von Angesicht zu Angesicht.“ Peker spielt den Whistleblower, der nichts mehr zu verlieren hat. Dabei zeigen seine Videos, wie verzweifelt er versucht, mit jenen zu verhandeln, die er bedroht: den gleichermaßen verzweifelten Regierungspolitikern. Verzweifelt sind aber auch die Menschen, die seine Videos anschauen.

Peker weiß genau, was die Millionen hören wollen. Er ist nicht nur Whistle­blower, sondern auch Entertainer. Während sich seine Show dem Staffelfinale nähert, steigert er die Spannung, indem er Dinge nicht einfach verrät, sondern Andeutungen macht. Er nutzt Symbole: einen Kompass auf dem Hotelzimmertisch, einen Globus und Bücher im Bild. Er bemüht sich, Zu­schaue­r:in­nen das Gefühl zu geben, dass er viel mehr weiß, als er erzählt. Seine Zu­schaue­r:in­nen diskutieren nach jeder Folge konkurrierende Interpretationen. Dann warten sie gespannt auf die nächste Folge.

Konzert der Verzweiflung

Weil Ermittlungen gegen ihn laufen, lebt Peker seit eineinhalb Jahren im Ausland. Er gibt vor, die Videos zu veröffentlichen, weil die Polizei seine Frau und Kinder bei Razzien schlecht behandelt hätte. Vermutlich versucht er, seine Rückkehr in die Türkei zu erpressen. Peker, ein kräftig gebauter Mafiapate mit Botoxgesicht, sitzt in einem Hotel, angeblich in Dubai, spuckt wütend eine Drohung nach der anderen aus, die letzten Worte seiner Sätze brüllt er, seine Augen schießen dabei an die Decke, dann lacht er wie verrückt.

Hinter der Rolle des furchtlosen Mafiapaten steckt aber Verzweiflung; die Verzweiflung eines Mannes, der Erdoğan, die AKP und die rechtsextreme MHP jahrelang unterstützt hat und nun nicht in die Türkei zurückkehren kann; Verzweiflung darüber, dass sein Schicksal immer noch von der Gunst eines Erdoğan abhängt. Peker ist mit diesem Gefühl aber nicht allein.

Erdoğan ist auch verzweifelt: Wochenlang hat der Präsident aus Angst geschwiegen, dass es auch ihn treffen könnte, und hat sich dann doch hinter seinen Innenminister gestellt. Verzweifelt sind die Staatsanwälte, die keine Ermittlungen aufnehmen angesichts der schweren Vorwürfe.

Verzweifelt ist eine türkische Opposition, die überfordert ist, wenn die schmutzige Wäsche des Regimes an die Öffentlichkeit gerät. Und groß ist die Verzweiflung bei den Menschen, die daran glauben wollen, dass diese Videos helfen könnten, die kriminelle Bande, die die Türkei in Geiselhaft hält, endlich zur Verantwortung zu ziehen. Dass sich in der Türkei vielleicht doch noch etwas verändert.

Diese Show geht nie zu Ende

Nur weil die Zu­schaue­r:in­nen diese Verzweiflung beiseiteschieben können, konnte sich der Spannungsbogen der skurrilen Reality Show aufbauen. Die Milieus, die sich mit der Dauerherrschaft der AKP abgefunden haben, wachen dieser Tage mit der Möglichkeit auf, dass ein neuer Skandal die Regierung erschüttern könnte.

Führende Jour­na­lis­t:in­nen des Landes kommentieren den ganzen Tag lang Pekers Symbolik: „Peker hat dieses Mal ein schwarzes statt weißes Hemd getragen. Hat das eine Bedeutung?“ oder: „Dieses Mal gibt es mehr als ein Buch im Bild. Ein Buch von Dostojewski. Was möchte Peker damit sagen?“

Es wirkt, als würden sich alle wünschen, diese Show gehe niemals zu Ende. Ein rechtsextremer Krimineller, der mal gesagt hat, er werde im Blut von den Ak­de­mi­ke­r:in­nen baden, die zur friedlichen Lösung des Kurdenkonflikts aufgerufen hatten, ist heute eine Art Volksheld. Dieser Volksheld spricht jetzt selbst von der Lösung des Kurdenkonflikts – weil er linksliberale Milieus und die internationale Presse anspricht.

Pekers Sprache findet langsam Eingang in die türkische Popkultur: Die Menschen sprechen sich mit „werte Freunde“ und „werte Geschwister“ an, so wie Peker seine Zu­schaue­r:in­nen anspricht. Die türkische Öffentlichkeit erhofft sich viel von seinen Behauptungen. Natürlich hätten sie auch überall anders auf der Welt einen gewissen Nachrichtenwert. Trotzdem ist es naiv, von ihnen zu erwarten, dass sie die Regierung stürzen. Deshalb ist diese eigenartige Reality Show dann doch spezifisch für die Türkei. Daran hat auch eine Opposition ihren Anteil, die in 20 Jahren nichts gegen das Erdoğan-Regime ausrichten konnte.

Können Skandale etwas verändern?

Alle paar Jahre gibt es einen neuen Skandal, der den Dreck der Regierung vor Augen führt, der ohnehin allen bekannt ist. Gibt es etwas, das die Menschen in der Türkei noch schockieren kann?

Da gab es die Tonaufnahmen, die im Winter 2013 auf Youtube hochgeladen wurden, als gerade Staatsanwälte, denen Gülen-Nähe nachgesagt wurde, eine Operation gegen Korruption gestartet hatten. Darin forderte Erdoğan seinen Sohn auf, das Geld zu Hause verschwinden zu lassen. Auch damals etablierten sich Ausdrücke in der populären Kultur: „sıfırlamak“ für „verschwinden lassen“ und „bıbıcım“ für „Papi“, mit dem sich Bilal Erdoğan an seinen Vater wandte. Damals dachte man, Erdoğan würde jetzt zurücktreten.

All das geschah, als das Präsidialsystem in der Türkei noch nicht eingeführt war, Erdoğan war also noch nicht so mächtig wie heute. Trotzdem wurde die offensichtliche Korruption als Terroroperation gegen die Regierung abgetan. Es passierte nichts.

Und da gab es den iranischen Unternehmer Reza Zarrab, der mithilfe der staatlichen türkischen Bank das Wirtschaftsembargo gegen den Iran umging, in den USA festgenommen wurde und Hoffnungen weckte, dass Vergehen der türkischen Regierung aufgedeckt würden. Diesmal wurde der New Yorker Staatsanwalt Preet Bharara, der die Ermittlungen leitete, zum Volkshelden erklärt. Aber auch diesmal wurde die Hoffnung enttäuscht. Eine Regierung, die bis zum Hals im Korruptionssumpf steckt, kam wieder davon. So gewöhnte sich ein Land daran, dass seine Regierung korrupt ist, dieser Umstand aber zu keinerlei Konsequenz führt.

Was ist Show und was nicht?

Auch die Peker-Videos werden nicht zu Rücktritten führen. Vielleicht führen sie dazu, dass sich Wäh­le­r:in­nen von der AKP und MHP abwenden. Aber die Menschen haben aus ihren Erfahrungen gelernt, lehnen sich diesmal zurück und genießen die Show. Der Genuss hilft ihnen, mit ihrer Verzweiflung umzugehen. Es ist nicht so, dass die Aussagen Pekers nichts weiter als Unterhaltungswert haben. Aber die politische Kultur in der Türkei ist an einem Punkt angekommen, dass sich politisch relevantes Geschehen in seinem Unterhaltungswert erschöpft.

Der US-amerikanische Autor Neil Postman schrieb in seinem Buch „Wir amüsieren uns zu Tode“: „Mit jedem Tag wird es schwieriger, die Show von der Nicht-Show zu unterscheiden und so verändert sich die Qualität unserer kulturellen Erzählung.“

Von der Erwartung, dass Korruption zu Konsequenzen führt, ist in der Türkei nicht mehr übrig geblieben als die Erwartung unterhalten zu werden. Peker weiß um diese Erwartung. Deshalb wird er in Folge 9 wohl tatsächlich über Erdoğan sprechen.

Aus dem Türkischen: Volkan Ağar

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