: „Ich vermeide Wertungen“
Die Hamburger Keramikerin und Dozentin Thekla Müller-Fleer arbeitet nach anthroposophischen Ideen in der Kinder- und Jugendpsychiatrie
Von Petra Schellen
Angefangen hat es mit den Trennungskindern. Denn davon gab es viele. Und als sie sah, dass die Kinder die Trennung der Eltern und die Entwurzelung ihrer Familien in Ton modellierten und wie gesellschaftlich und psychologisch relevant das alles war: Da fing sie an, sich tiefer dafür zu interessieren.
Denn die Hamburgerin Thekla Müller-Fleer, Tochter des vor 100 Jahren geborenen Bildhauers Fritz Fleer, ist selbst studierte Keramikkünstlerin. Später ließ sie sich an der anthroposophisch orientierten Kunstakademie Hamburg zur Kunsttherapeutin für Kinder und Jugendliche ausbilden, wo sie inzwischen selbst lehrt. Lange hat sie auch in der Kinder- und Jugendpsychiatrie und in einer Inklusions-Kita gearbeitet.
Ausgangspunkt für all diese Fortbildungen und Weitungen ihres beruflichen Horizonts sei jenes Erlebnis mit plastizierenden Kindern gewesen. „Ich war sehr berührt, als ich die Kinder beobachtet habe und habe dann einen kleinen Jungen angeregt, die Trennung der Eltern in Ton zu modellieren“, sagt Müller-Fleer. „Er hat dann Vater- und das Mutterhaus gebaut, nebeneinander natürlich – schon das war ein starkes Symbol.“ Es sei Sinnbild für die Verwirrtheit und Desorientierung vieler Trennungskinder gewesen, die sich mit neuen PartnerInnen der Eltern, deren Kindern und wiederum deren Eltern arrangieren müssten.
Die sich damit abfinden müssten, dass der Vater mit seiner neuen Partnerin vielleicht ein weiteres Kind bekomme, ein Halbgeschwister. Dazu kämen „teils unzuverlässige, wechselnde Besuchs- und Aufenthaltsregeln in Vater- und Mutterhaus“, sagt sie.
Um solche Situationen zu bewältigen, kann auch das Plastizieren helfen, eine Art Miniatur-Familienaufstellung vielleicht. Denn die Kinder können da alle Beteiligten modellieren: beide Elternhäuser, sich selbst und ihren Übergang von einem zum anderen. Zudem erlaube die kleine Dimension dem Kind den Drauf- und Überblick und helfe, das unübersichtliche Geflecht aus Bezugspersonen zu erfassen, sagt Müller-Fleer. Vielleicht ein erster Schritt zu Verarbeitung und Stabilisierung.
Dieses in den Tonarbeiten aufscheinende Bedürfnis nach Stabilität habe ihr Interesse geweckt. Darauf habe sie Antworten finden wollen, sagt Müller-Fleer, und so sei sie zum Studium der Anthroposophie gekommen. „Diese Pädagogik bietet die Möglichkeit, Vertrauen in Prozesse zu bekommen und sich anhand von Naturbeobachtung zu vergewissern, dass auf Finsternis Licht, auf Regen Sonne folgt – auch in der eigenen Biografie“, sagt sie.
Außerdem gehe es darum, Kinder und Jugendliche zu erden, zupackend und handlungsfähig zu machen. „Anhand von Kinderzeichnungen kann man sehr schön sehen, ob sie geerdet sind“, sagt sie. „Ob ein Kind nur Schwebende malt oder sich irgendwann zum Kopffüßler mit Bodenkontakt durchringt.“ Theoretisch ergründet hat sie das in einer Forschungsarbeit über Zeichnungen kleiner Kinder, die „Vom Krikelkrakel zum Gegenständlichen“ heißt.
Abgesehen davon gehe es in der Inklusions-, Kinder- und Jugendtherapie darum, der leistungsorientierten Gesellschaft etwas entgegenzusetzen und weder zu werten noch zu vergleichen. „Wenn ich zu einem Kita-Kind sage: ,Du hast aber ein schönes Bild gemalt‘, wird das Kind daneben sagen: ,Und meins ist nicht schön?‘ Also versuche ich das zu vermeiden und sage Dinge wie: ,Das ist aber ein helles Gelb‘.“
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