: „Es kam auch zu Selbstmordgedanken“
Frauke Schukat arbeitet als Hebamme in der Erstaufnahmestelle Lindenstraße. Die Bremer Frau des Jahres über Schwangerschaft in Quarantäne, schlecht verheilte Traumata und die Bedeutung von vertrautem Essen
Interview: Alina Fischer
taz: Schwanger in einem fremden Land – wie kommen die Frauen, die Sie betreuen, zurecht, Frau Schukat?
Frauke Schukat: Unser Gesundheitssystem unterscheidet sich oft von dem in den Herkunftsländern der Frauen, sie bringen daher ein gewisses Maß an Vorbehalt dem ganzen System oder auch uns Hebammen entgegen. Meistens haben sie in ihrer Schwangerschaft noch nie eine Vorsorge erlebt. Das beginnt dann bei uns, mit der Ausstellung des Mutterpasses und einer Vorsorge vor Ort, sodass wir einschätzen können, ob eine Risikoschwangerschaft vorliegt. Manche Frauen sind schon bei ihrer Ankunft so schwer erkrankt, dass sie in ein Krankenhaus verlegt werden müssen.
Das heißt, sie gehen nur zu den Hebammen in die Vorsorge?
Nein, sie gehen auch zur Gynäkologin. Je nach kulturellem Hintergrund möchten manche nur zu einer Frau. Manchmal führen sprachliche Barrieren zu Missverständnissen, die zusätzlich belasten.
Was ist an einer Schwangerschaft hier für sie anders?
Schwangerschaft, Geburt und Wochenbett sind in den meisten Ländern sehr familienfreundliche Ereignisse. Da ist eine große Schar an Frauen um die Frau herum, die sie begleiten, sie betreuen und ihr helfen, sei es durch Essen kochen, durch Kinderbetreuung oder Ratschläge. Das haben wir in Deutschland nicht so sehr. Das fehlt den Frauen, das macht sie oft sehr einsam.
Die Betreuung durch die Hebammen reicht nicht?
Wir können keine Familie ersetzen, und wir kommen nicht aus ihrer Kultur. Aber es gibt schon ein paar Dinge, die wir für die Frauen über die normale Betreuung hinaus tun. Manchmal bringe ich ihnen zum Beispiel Lebensmittel, die ihren Essensvorstellungen eher entsprechen. Gerade wenn sie alleine in Quarantäne sind, finde ich das wichtig. Essen ist ja auch immer wieder Balsam für die Seele. Oder: Ein langes Gespräch, einmal in den Arm nehmen, zusammen lachen, sich zusammen über das Baby freuen. Das sind Dinge, die helfen, aber sie ersetzen es nicht.
2017 haben Sie mit Kolleginnen in der Erstaufnahme Lindenstraße eine Sprechstunde eingerichtet.
Wir haben eine Sprechstunde für Schwangere und Wöchnerinnen aufgebaut, um sie in der Schwangerschaft und in der Zeit nach der Geburt zu begleiten. Ein freiwilliges Angebot, das aber von fast allen Frauen angenommen wird. Wir waren anfangs fünf Hebammen, zurzeit sind wir noch zu zweit. Nach der Geburt betreuen wir sie im Wochenbett.
Warum sind Sie nur noch zu zweit?
Wegen Corona sind nicht mehr so viele Frauen in der Lindenstraße, die Belegungszahlen wurden heruntergefahren. Um 2017 herum war die maximale Belegung zwischen 600 und 700 Menschen, davon viele Schwangere und Neugeborene, sodass es manchmal etwas schwierig war, den Überblick zu behalten. Im Moment ist es sehr viel einfacher, mehr Zeit für die einzelne Frau haben. Das tut den Frauen sehr gut und entspannt auch unsere Arbeitssituation deutlich.
Gibt es während der Quarantäne Raum für Austausch unter den Frauen?
Letztes Jahr im April und Mai stand das gesamte Heim über mehrere Wochen unter Quarantäne. Weil ganze Flure gemeinsam in Quarantäne waren, gab es noch Austausch zwischen den Frauen. Nach dem ersten Corona-Ausbruch wurde die Strategie geändert. Zurzeit ist es so, dass alle, die positiv getestet werden, in eine andere Unterkunft gebracht werden. Das finde ich problematisch, weil die Frauen dann ganz allein über zwei Wochen wie weggesperrt sind. Ich habe eine Frau in ihrer Quarantänezeit betreut, deren Handy kaputt war. Sie hatte keine Bücher, kein Fernsehen, kein gar nichts und war zwei Wochen lang allein in ihrem Zimmer. Sie beschrieb immer wieder die Angst, verrückt zu werden, weil sie so isoliert war.
Konnten Sie ihr helfen?
Natürlich versuche ich es als betreuende Hebamme irgendwie aufzufangen, aber selbst tägliche Besuche sind zeitlich oft gar nicht möglich. Und wenn da keine andere Frau zufällig mit in Quarantäne ist, mit der sie sich austauschen oder mal zusammen kochen kann, dann wird es schon sehr bedenklich.
Frauke Schukat 41 Jahre, arbeitete nach der Ausbildung drei Jahre als Hebamme in der Entwicklungshilfe im Jemen, seit 2017 freiberuflich in der Erstaufnahmestelle Lindenstraße. Vor kurzem wurde sie gemeinsam mit zehn weiteren in der Coronapandemie engagierten Frauen zur Bremer Frau des Jahres 2021 ernannt.
Warum lassen die Verantwortlichen das zu?
Den Behörden ist das, glaube ich, nicht bewusst. Manchen Leitungen in den jeweiligen Unterkünften schon, da spreche ich das auch immer wieder an und bitte um Betreuung und in manchen Fällen um regelmäßige Kontaktaufnahme zur Frau. Es gab Situationen, in denen ich mir nicht sicher war, ob sich die Frau nicht vielleicht doch etwas antut oder in eine psychische Ausnahmesituation gelangt. In manchen Unterkünften wird strikt getrennt, sodass die Mitarbeiter:innen den Quarantänebereich eigentlich gar nicht betreten dürfen. Als Ansprechpartner für die Frauen gilt dann die Security vor den Fluren oder Zimmern. Menschen in Uniform sind für viele nicht unbedingt vertrauenserweckend. Dazu sind es meistens Männer, was in vielen Fällen nicht hilfreich ist. Ich habe oft das Gefühl, dass die psychische Belastung der Frauen zweitrangig ist. Vorrangig ist die Quarantäne, alles andere muss jetzt zurückstecken.
Welche Folgen hat das?
Viele stecken das sehr gut weg und machen weiter. Aber ich sehe bei vielen Frauen, dass sie psychische Auffälligkeiten entwickeln. Zum Beispiel massive Waschzwänge, Ängste, nach draußen zu gehen oder irgendetwas zu berühren, weil sie Angst haben, sich anzustecken, wieder in Quarantäne zu müssen. Die Bewohner:innen teilen sich ja auch weiterhin Duschen, Toiletten, Kantine, Flure, Zimmer – und können dort zum Beispiel das Fenster nicht aufmachen. Die Wände gehen nur halb hoch, das heißt, auch in Quarantäne ist es eine enorme Lärmbelästigung, weil sie die Geräusche des ganzen Flures hören – wenn Kinder schreien, wenn jemand telefoniert, Musik hört Tag wie Nacht. Vor allem letztes Jahr kam es auch zu Äußerungen von Selbstmordgedanken. Da war eine Frau, die mehr als vier Wochen in Quarantäne war, weil auf ihrem Flur immer wieder positiv getestete Frauen oder Männer waren. Sie sagte irgendwann zu mir: „Wenn ich morgen die Quarantäne nicht verlassen darf, gebe ich dir mein Baby, renne raus und wenn die mich erschießen, ist mir das egal.“
Erschießen?!
Ich finde, in diesem Satz steckt alles, was diese Frauen aushalten mussten. Natürlich gibt es niemanden, der sie erschießen würde, wenn sie die Quarantäne verlässt und weglaufen möchte. Es trägt ja niemand Waffen. Aber man sieht: In ihren Gedanken gibt es noch andere Erinnerungen, die meist aus ihren Fluchtgeschichten herrühren. Durch das Eingesperrtsein kommen sie wieder hoch. Das verursacht einen zusätzlichen, immensen Druck.
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