Erinnerungskultur in Belarus: Party statt Parade

Das Ende des Zweiten Weltkrieges wird in diesem Jahr anders begangen als sonst. Janka Belarus erzählt von stürmischen Zeiten in Minsk. Folge 83.

Kinder in rot, grün, weißen Uniformen während einer Parade

Feierlichkeiten am „Tag des Sieges“ auf dem Platz des Sieges in Minsk Foto: Maxim Guchek/imago-images

Am 9. Mai wurde in Belarus der Tag des Sieges im Zweiten Weltkrieg begangen. In einem Land, in dem jeder dritte umgekommen ist, ist das auch 76 Jahre danach noch ein wichtiger Tag. Aber das ist kein Festtag, sondern ein Tag der Trauer und der Ehrerbietung gegenüber den wenigen noch lebenden Veteranen.

Im vergangenen Jahr, auf dem Höhepunkt der ersten Welle der Coronapandemie, hatte Alexander Lukaschenko eine Parade im Zentrum der Stadt Minsk angeordnet. In keinen anderen Land wäre einem Staatsoberhaupt solch eine lächerliche Idee in den Kopf gekommen, aber unser Präsident hat in seiner Kindheit wohl nicht genug „Soldat“ gespielt. Diese Parade hatte eine rekordverdächtig niedrige Anzahl von Zuschauern, sogar russische Militärs sagten ihre Teilnahme ab.

Записи из дневника на русском языке можно найти здесь.

In diesem Jahr gab es keine Parade. Lukaschenko begnügte sich damit, einen Kranz niederzulegen, es gab Konzerte und ein Feuerwerk in den ideologisch „richtigen“ Farben: rot und grün. Ungeachtet des Umstandes, dass Ökologen sich dagegen ausgesprochen hatten während eines Konzerts 4.000 Ballons aufsteigen zu lassen, wurde das trotzdem durchgezogen. Ich hoffe sehr, dass die Vögel nicht allzu sehr gelitten haben und die Orte, an denen die Ballons niedergingen, nicht allzu sehr verschmutzt wurden: Denn der Staat macht keine Anstalten, diesen toxischen Müll vom Boden und aus dem Wasser zu entfernen.

Das Gleiche gilt in diesem Jahr übrigens für finanzielle Hilfen an die Adresse der wenigen verbliebenen Veteranen. Anfangs hieß es im Arbeitsministerium noch, Einmalzahlungen seien nicht vorgesehen. Daraufhin startete die Bürgerinitiative BYSOL eine Sammung für die Veteranen. Am 7. Mai äußerte sich Lukaschenko zu der Situation und versprach, dass alle Kriegsteilnehmer am Tag des Sieges eine einmalige Hilfszahlung erhalten würden. Er merkte an, dass zur Unterstützung der Veteranen die nicht gerade geringe Summe von umgerechnet 20 Millionen Euro ausgegeben würde.

3.337 Weltkriegsteilnehmer sind in Belarus noch am Leben

In Belarus sind noch 3.337 Weltkriegsteilnehmer am Leben. Das sind 1.469 weniger als im vergangenen Jahr. Kriegsinvaliden erhielten jeweils 487 Euro, Gefangene in Konzentrationslagern 227 Euro. Man muss kein Mathematiker sein, um folgende Frage zu stellen: Wo ist das übrige Geld geblieben, Sascha? (Sascha ist die Verniedlichungsform von Alexander; wenn man denn in so einem Ton zu dem ehemaligen Präsidenten sprechen kann, dann erlaube ich mir das jetzt, Anm. d. Autorin).

Vor Kurzem haben deutsche Rechtsanwälte im Namen von gefolterten Belarussen wegen Verbrechen gegen die Menschlichkeit beim Generalbundesanwalt Strafanzeige erstattet. „Im Großen und Ganzen können die Taten des Regimes nur als grausam bezeichnet werden“, so die Anwälte. Wissen Sie, wie Lukaschenko darauf reagiert hat? „Nicht die Erben des Faschismus werden mich richten. Wer seid Ihr eigentlich, um mich zu richten? Dafür, dass ich Euch schütze und auch mein Land?“

Selbst wenn man vor diesen unzulässigen Äußerungen, mit denen der ehemalige Präsident in einer so groben Weise seine Unzufriedenheit ausdrückte, die Augen verschließt, sollte er jedoch an Folgendes erinnert werden: Dass sich Deutschland zu seinen Taten reumütig bekannt und den Opfern Entschädigung gezahlt hat. Daher hat dieses Land ein Recht, über Faschismus zu richten, der sein Haupt im Europa des 21. Jahrhunderts erhebt. Die Deutschen sind die direkten Nachkommen, das heißt erfahrene Richter, was Verbrechen gegen die Welt und die Menschheit angeht.

Doch Lukaschenko ist als Historiker, obwohl er in diesem Fach ausgebildet ist, professionell genauso unbrauchbar wie als Präsident. Er erinnert sich an nichts und analysiert nichts. Was soll man auch von jemandem erwarten, der behauptet, sein Vater sei im Zweiten Weltkrieg gefallen? Er selbst wurde 1954 geboren. Wissenschaftler haben herausgefunden, dass einige Arten von Säugetieren den Fortgang der Schwangerschaft und die Geburt auf einen, für das Überleben günstigeren, Zeitraum verschieben.

Es scheint, dass Lukaschenko kein Mensch ist, sondern ein Känguruh oder ein Hirsch oder eine Robbe oder ein Nagetier. Aber vielleicht meint er nicht seinen biologischen, sondern seinen ideologischen Vater – Hitler, den er wiederholt bewundert hat. Das würde auch den „Genozid“ am belarussischen Volk erklären, der verwerflich und unnötig ist und dem Zerstörungswillen des belarussischen „Führers“ unterliegt.

Vor einigen Jahren war ich in Nürnberg: Eine schöne Stadt, ein prächtiges Albrecht-Dürer-Museum, der wunderbare Schöne Brunnen am Hauptmarkt, die fabelhafte mittelalterliche Kaiserburg.

Ich werde mit großer Freude dorthin zurückkehren, um meine professionellen Pflichten als Journalistin zu erfüllen. Und zwar an den Ort, wo ich noch nicht war – den Justizpalast. Das wird der Tag sein, an dem Lukaschenko dort der Prozess gemacht wird.

Aus dem Russischen Barbara Oertel

Einmal zahlen
.

Fehler auf taz.de entdeckt?

Wir freuen uns über eine Mail an fehlerhinweis@taz.de!

Inhaltliches Feedback?

Gerne als Leser*innenkommentar unter dem Text auf taz.de oder über das Kontaktformular.

ist 45 Jahre alt und lebt und arbeitet in Minsk. Das Lebensmotto: Ich mag es zu beobachten, zuzuhören, zu fühlen, zu berühren und zu riechen. Über Themen schreiben, die provozieren. Wegen der aktuellen Situation erscheinen Belarus' Beiträge unter Pseudonym.

Bitte registrieren Sie sich und halten Sie sich an unsere Netiquette.

Haben Sie Probleme beim Kommentieren oder Registrieren?

Dann mailen Sie uns bitte an kommune@taz.de.