Geschäft mit der Qual

In Bad Iburg wird derzeit in über 100 Verfahren ein weitverzweigtes Tierschutzverbrechen durchleuchtet: Der örtliche Schlachthof Temme schlachtete illegal kranke Rinder. Landwirte bekamen so Geld für Tiere, die sie eigentlich hätten nottöten müssen

„42 Verfahren sind schon abgewickelt. Einen Freispruch gab es nicht“

Susanne Kirchhoff, Direktorin des Amtsgerichts Bad Iburg

Von Harff-Peter Schönherr

Beschaulich wirkt er, der kleine niedersächsische Kurort Bad Iburg. Uhrenmuseum, Teichanlagen und mittendrin, auf einer Anhöhe, eine tausendjährige Burg, als Postkartenmotiv. Aber die Idylle trügt. Denn hier oben auf der Burg, im Amtsgericht, geht es seit vielen Monaten um das, was Friedrich Mülln, Kopf der Tierrechtsorganisation Soko Tierschutz, eine „Hölle“ nennt. Geschaffen durch die „Bad Iburg-Connection“.

In Dutzenden Verfahren werden dort die gewaltvollen Geschäftspraktiken im Schlachthof der Vieh- und Fleisch Karl Temme GmbH & Co. KG durchleuchtet, möglich gemacht durch abgestumpfte Landwirte, Viehtransporteure und pflichtvergessene Veterinäre.

Bis die Tierschützer den Bad Iburger Schlachtbetrieb 2018 durch verdeckt gefilmtes Videomaterial zu Fall brachten, sei er in der Branche bundesweit bekannt dafür gewesen, illegal „Tiere anzunehmen, die kein anderer will“, sagt Mülln. Kranke, abgemagerte, schwerverletzte Tiere. Tiere, die auf dem Hof notgetötet hätten werden müssen, in Tierkörperbeseitigungen entsorgt. Stattdessen landen sie hier, werden mit Seilwinden in den Schlachthof gezogen, getötet und verarbeitet.

Nach außen hin war der Schlachthof Temme ein honoriger Traditionsbetrieb. Mit rund 7.000 geschlachteten Rindern pro Jahr nicht allzu groß, aber auch nicht gerade klein. Auch Biofleisch wurde hier produziert. Aber was im Inneren vor sich ging, war eine andere Welt. Am Ende kam die Stilllegung. Und die Polizeidurchsuchung. Und die Entlassung der zuständigen Veterinärmediziner durch die Kreisverwaltung.

„42 Verfahren sind schon abgewickelt“, sagt Susanne Kirchhoff, Direktorin des Amtsgerichts Bad Iburg. „Und einen Freispruch gab es bisher nicht.“ Neun Verfahren sind derzeit noch anhängig. Bis am Ende auch die Hauptverantwortlichen abgeurteilt sind, werden es weit über 100 sein. „Ein solch großer Komplex ist für uns schon sehr ungewöhnlich“, sagt Kirchhoff. Wann die nächsten Verfahren starten, weiß sie noch nicht. Klar ist nur: Es wird schwieriger. „Wir haben mit den rechtlich einfach gelagerten Fällen angefangen“, sagt Kirchhoff. „Jetzt kommen die komplexeren Tatgeschehen.“

Dass es bisher keinen Freispruch gab, stellt Mülln nicht zufrieden. „Es ist lobenswert, dass der Fall Bad Iburg um das kriminelle Netzwerk auf Kosten von zahllosen schwer kranken, gequälten Kühen vor Gericht aufgearbeitet wird, die lachhaften Strafen werden das System aber kaum erschüttern können“, sagt er. Der Staatsanwaltschaft fehle „der Mut und das Interesse, die Taten ernsthaft zu bestrafen“. Die „Connection“ sei das schlimmste organisierte Tierschutzverbrechen der letzten Jahrzehnte. Müllns Fazit: „Wenn niemand Berufsverbote und Haftstrafen fürchten muss, müssen wir feststellen, dass die Kadavertaxis schon wieder rollen und sich alles nur verlagert hat.“

Auch Jan Peifer sieht das so, Vorstandsvorsitzender des Deutschen Tierschutzbüros: „Die meisten Fälle von Tierquälerei werden noch nicht einmal vor Gericht verhandelt“, sagt er. Und wenn sich Tierquäler doch verantworten müssten, könnten die Geldstrafen aus der Portokasse gezahlt werden. „Das ist nicht abschreckend, sondern fördert letztlich Tierquälerei.“

Bis zu drei Jahre Haft sieht das Tierschutzgesetz vor, bis zu 360 Tagessätze Geldstrafe. Die bisher schwerwiegendste Strafe der Temme-Verfahren waren 100 Tagessätze, gegen Viehtransportfahrer Sascha P. Die Videos der Tierschützer zeigen Rinder, die aus seinem Anhänger hinken und zusammenbrechen. Drei, die nicht mehr stehen können, werden bei vollem Bewusstsein per Kette über die Sprossen der Lkw-Rampe gezogen. Sascha P. arbeitet bei allem mit, geübt, wie selbstverständlich. 100 Tagessätze zu je 50 Euro Strafe klingt dafür nicht viel, zumal das Gericht geurteilt hat, dass Sascha P. „mehrere Tiere misshandelt hat, dabei mit roher Gewalt vorgegangen ist und die Tiere erheblich gequält hat“. Aber die wesentliche Zahl ist die 100. Denn alles über 90 heißt: Vorstrafe.

„Da gibt es natürlich unterschiedliche Wahrnehmungs- und Erwartungshaltungen“, sagt Kirchhoff. „Aber das ist immer eine Abwägungsfrage: Wie schwer wiegt die Tat, wie groß ist die persönliche Schuld? Liegt eine Wiederholungstat vor, Einsicht, eine Vorstrafe?“ Die Hauptverantwortlichen stehen noch aus. Die Bilanz ist also noch offen.

Ob die Temme-Verfahren zeigen, dass hier systemische Fehler zutage treten, nicht nur Einzelfälle? „Das ist so ähnlich wie bei Junkies, hat einer meiner Richterkollegen ganz treffend gesagt“, sagt Kirchhoff. „Die wissen auch alle, wo man die Drogen herkriegt, aber vorher absprechen muss sich keiner.“

Fälle wie Temme haben die deutsche Fleischwirtschaft in Verruf gebracht. Aber Grundsätzliches verbessert hat sich nicht. Die Videoüberwachung der niedersächsischen Schlachthöfe, Anfang 2019 vereinbart, angeschoben durch Agrarministerin Barbara Otte-­Kinast (CDU), hatte zunächst ein großes Datenschutzproblem. Viele der installierten Kameras haben die Schlachthöfe daraufhin wieder abgehängt.

Mülln sieht sie als Ablenkungsmanöver, als „Scheindebatte, welche die Branche gerne mitführt, um von echten Eingriffsmöglichkeiten abzulenken und Zeit zu schinden“. Dort, wo es schon ausprobiert worden sei mit den freiwilligen Kameras durch die Unternehmen, hätten Schlachthöfe „trotzdem wegen Grausamkeiten geschlossen werden“ müssen – nachdem Tierschützer selbst gefilmt hatten. Im nordrhein-westfälischen Eschweiler etwa, oder in Tauberbischofsheim in Baden Württemberg.

Die Frage ist immer, wer soll die stundenlangen Videoaufnahmen auswerten? Schlachthofmitarbeiter? Veterinäre? Letztere seien „schon überfordert, wenn sie direkt neben der Tat stehen“, sagt Mülln mit Blick auf den Schlachthof in Bad Iburg. Außerdem: „Die Kameras sind in der Hand der Schlachthöfe, und wenn die Polizei kommt, waren sie im entscheidenden Moment aus.“

Ohnehin hat Mülln den Verdacht, bei Otte-Kinasts Videovorstoß sei es gar nicht um den Tierschutz gegangen: „Die meisten Kameras sind mit Nachtsichtscheinwerfern ausgerüstet worden, und so sieht man den wahren Zweck, denn die sollen Tierschützer und nicht Tierquäler entdecken.“

„Mir reicht es!“, hatte Otte-Kinast Mitte November 2018 in einer Aktuellen Stunde des niedersächsischen Landtags gesagt. „Ich benötige jetzt keine weiteren Beweise mehr dafür, dass wir in Sachen Tierschutz einen Neustart in unseren Schlachthöfen benötigen.“

Seither ist alles wie immer.