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Ausschreitungen in IsraelEskalation mit Ansage

Judith Poppe
Kommentar von Judith Poppe

Jerusalem ist ein Pulverfass. Solange Pa­läs­ti­nen­se­r*in­nen dort nicht die vollen Rechte haben, wird es immer wieder zu Gewaltausbrüchen wie den jetzigen kommen.

Rechte Israelis feiern den Jerusalem-Tag, und damit die Kontrolle über die Altstadt und Ostjerusalem Foto: Nir Elias/reuters

A m Jerusalemtag, so heißt es unter Israelis, wird die Wiedervereinigung Jerusalems nach dem Sechstagekrieg 1967 gefeiert. Ironischerweise wird immer wieder an eben diesem Tag deutlich: Von Einigkeit kann keine Rede sein. In diesem Jahr ist es besonders klar. Seit Tagen geraten Palästinenser*innen, Israelis und Polizei so heftig aneinander wie schon seit Jahren nicht.

Der Flaggenmarsch, mit dem ultrarechte religiöse Zionisten jedes Jahr am Jerusalemtag durch die Altstadt ziehen und ihre Kontrolle über Ostjerusalem und die Altstadt zelebrieren, ist ein Schlag ins Gesicht der palästinensischen Bevölkerung, von denen sich gerade viele gegen Zwangsräumungen wehren. Es fällt schwer, dabei von Wiedervereinigung zu sprechen, zumal sie völkerrechtlich nicht legal war.

Die Pa­läs­ti­nen­se­r*in­nen und Jüdinnen und Juden leben in Jerusalem noch immer weitgehend getrennt voneinander; nur selten verirren sie sich in die jeweils andere Seite ihres Jerusalems. Kurz: Jerusalem ist keine vereinte Stadt, sondern ein Pulverfass; und der Jerusalemtag ist in erster Linie eine Feier der Eroberung Ostjerusalems. Keiner fragte die Palästinenser*innen, ob sie vereint werden wollen.

Der Jerusalemtag berührt ein in vielen Jüdinnen und Juden tief verankertes Gefühl. Mit dem Tag wird in ihren Augen gefeiert, dass die zweitausend Jahre alte Sehnsucht nach dem gelobten Land, nach Jerusalem, endlich Realität geworden ist. „Jerusalem aus Gold“ heißt ein bekanntes israelisches Lied von Naomi Shemer. Die erste Strophe entstand vor dem Sechstagekrieg. „Der Marktplatz ist leer und niemand besucht den Tempelberg“, heißt es darin. Kurz nach dem Krieg fügte Shemer eine weitere Strophe hinzu: „Wir sind zum Marktplatz zurückgekehrt, und der Shofar (ein traditionelles Musikinstrument) bläst über dem Tempelberg.“

Die Altstadt war nie leer

In Shemers Fantasie, die zu einer Art zweiten Hymne Israels geworden ist, war die Altstadt, bevor die Juden zurückkehrten, leer, und erst die Jüdinnen und Juden erfüllten sie wieder mit Leben. Doch die Altstadt war nie leer; derzeit leben in Jerusalem rund 300.000 Palästinenser*innen. Der Traum vom unbewohnten Land ist mit der Realität nicht zu vereinbaren. In dieser Fantasie, in eine diskriminierende Politik umgesetzt, ist kein Platz für Palästinenser*innen.

Solange dies der Fall ist, solange strukturelle Ungleichheiten ignoriert werden, palästinensische Be­woh­ne­r*in­nen von Ostjerusalem nicht die vollen Rechte haben, solange rund 150 Familien, wie derzeit in arabischen Stadtteilen von Zwangsräumung bedroht sind, wird es immer wieder zu Gewaltausbrüchen kommen.

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Judith Poppe
Auslandsredakteurin
Jahrgang 1979, Auslandsredakteurin, zuvor von 2019 bis 2023 Korrespondentin für Israel und die palästinensischen Gebiete.
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6 Kommentare

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  • "Solange Pa­läs­ti­nen­se­r*in­nen dort nicht die vollen Rechte haben, wird es immer wieder zu Gewaltausbrüchen wie den jetzigen kommen."

    Ich fürchte, die Protestierenden haben andere Prioritäten:

    twitter.com/Ostrov...391121131843821568

    twitter.com/Jtruzm...391232696022487045

  • Ist schon seltsam:...im Licht der antiken



    ästhetischen und religiösen Visionen um



    Heimat, als 'gottesfürchtige' und friedliebende Volksgruppen eigener Moral und Rechte.. . Hier: das jüdische Volk und das Volk der Palästinenser..



    Die Städte, das Land... ist beider Völker



    Heimat, das Eine gehört zum Anderen!



    Friedlicher Respekt den Verschiedenheiten!

  • 0G
    02854 (Profil gelöscht)

    Ich bezweifele das es * bei den Pa­läs­ti­nen­se­r gibt! Zumindest nicht öffentlich.

    Es wäre mal interessant ein Bericht über die Schwulen- Lesben- und Trans-Community im Gaza-Streifen zu bringen.

    Zum Thema "volle Rechte" und so!

  • Gegen Ihre Darstellung sind der derzeitige völkerechtliche Zustand und die Rechtmäßigkeit der Räumung einiger weniger Grundstücke mindestens umstritten. Keinerlei Zweifel gibt es jedoch an der eindeutigen Rechtswidrigkeit der jordanischen Besetzung nach einem Angriffs- und Eroberungskrieg. Damals wurden ausnahmslos alle Juden, deren Familien seit Jahrzehnten und teils Jahrhunderten in der Altstadt und angrenzenden Vierteln wohnten, vollständig vertrieben. Die Synagogen wurden zerstört und über viele Jahrzehnte war den Angehörigen fast aller Religionen und Konfessionen der Zugang zu den ihnen heiligen Stätten verwehrt. Natürlich ist die Zwangsräumung eine ungebührliche Härte für Menschen, deren Eltern die Häuser von der damaligen jordanischen Regierung zugesprochen wurden. Erfolgt sie wirklich genauso völlig entschädigungslos und ohne jede Unterstützung wie die Vertreibung der Juden vor 73 Jahren?



    Übrigens, gibt es im gesamten Großraum des Nahen Ostens ein anderes Land, in dem Araber und Muslime so viele persönliche Rechte und Freiheiten genießen wie in Israel?

    • @Axel Berger:

      Die Menschen in Sheikh Jarrah wurden nach ihrer Vertreibung 1948 in Jerusalem angesiedelt, durch ein Abkommen von Jordanien mit der UNRWA. Seit der Besatzung 1967 versucht Israel Ostjerusalem völkerrechtswidrig zu übernehmen. Jüdische Israelis haben das Recht seit 1971, auf verlorenes Eigentum zu klagen, Palästinener:innen haben nicht das Recht auf verlorenes Eigentum zu klagen, auch nicht innerhalb des Staates Israel.

  • Danke - bitter - anschließe mich.