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Ein Wettbewerb, der keiner mehr sein will

Die Geschichte der Miss-Wahlen ist lang und voll absurder Anekdoten – vielleicht das einzig Vermissenswerte, wenn sie nun zu Ende ginge. Doch vorläufig hat die Familie Kemmer aus Oldenburg das Format noch einmal neu erfunden. Es zählt – neben dem Aussehen – auch der „Social Performance Indicator“

Eine schöner als die Andere, alle Gewinnerinnen – aber so richtig doll gewonnen hat nicht ganz zufällig die Schlanke, Blonde in der Mitte Foto: Eibner/Imago

Von Nadine Conti

Empowering Authentic Women“ heißt das Motto der „Miss Germany“-Wahl seit zwei Jahren. Und bitte, wer könnte denn ernsthaft etwas dagegen haben – oder sagen: „Echte Frauen ermächtigen“?

Ist es denn nicht schön, dass der gesellschaftliche Wandel nun selbst vor einem mehr als hundert Jahre alten Wettbewerb nicht Halt macht? Erreicht und ermutigt man damit nicht noch einmal eine ganz andere, weibliche Zielgruppe als durch politischen Aktivismus welcher Art auch immer?

Natürlich geht es dabei zunächst einmal um die Rettung eines Geschäftsmodells. Und zwar um das eines Oldenburger Familienunternehmens in der dritten Generation. Max Klemmer führt die „MGC-Miss Germany Corporation Klemmer GmbH & Co. KG“ zusammen mit seinem Vater Ralf Klemmer. Gegründet wurde sie von seinem Großvater Horst Klemmer. 1975 war das. Davor war Horst Klemmer „Conférencier“, wie das damals noch vornehm hieß. Er moderierte zahlreiche Miss-Wahlen, den Titel „Miss Germany“ vergab damals eine Strumpffabrik, die das Ganze aus ihrem Werbeetat bestritt.

Ein seltsames Geschäftsmodell

Das Geschäft ist ein wenig seltsam und schwer zu durchschauen. Oder vielmehr: Man lässt sich da nicht so gern in die Karten schauen. Das schadet dem Glamour. In den Siebziger- und Achtzigerjahren gab es eine Reihe von Gerichtsprozessen um Titel und Lizenzen. Vor allem die Lizenz, die eigene Miss zu einem der großen internationalen Wettbewerbe zu schicken, war Gold wert.

Heiß umkämpft war aber auch die Frage, wer überhaupt das Recht hätte, seine Schönheitskönigin „Miss Germany“ zu nennen. Zeitweise stöckelten davon mehrere durch die Republik, bis heute gibt es auch eine „Miss Deutschland“. Deutsche Gerichte fanden ursprünglich, man könne so etwas nicht patentieren. Erst als es den Oldenburgern Anfang der 2000er Jahre gelang, die „Miss Germany“ und den „Mister Germany“ als europäische Marken eintragen zu lassen, kehrte endgültig Ruhe ein.

Geld machten die Klemmers damit ursprünglich auf zwei Wegen: Einerseits kassierten sie von den lokalen oder regionalen Veranstaltern der Vor­ausscheidungen, andererseits von den kooperierenden Werbekunden, denen sie nach der Wahl auch die Siegerin „vermieteten“.

Einen Jahresumsatz von knapp unter einer Million Euro gab Klemmer Senior 2010 in einem Interview mit der FAZ zu Protokoll. Sein Enkel spricht heute von 1,5 Millionen Jahresumsatz, die Firma beschäftige zehn bis 15 Mitarbeiter.

Dass „Miss Germany“ ein Vollzeitjob sei, erklärte der Senior damals auch. 100.000 Kilometer und 150 Termine in zwölf Monaten seien zu absolvieren. 70.000 bis 150.000 Euro konnte die jeweils amtierende „Miss Germany“ damit verdienen, 25 Prozent der Einnahmen kassierte die Firma.

Auch heute noch muss die „Miss Germany“ unterschreiben, dass sie für vielerlei Events zur Verfügung steht – das Geld wird aber vor allem online und durch Exklusiv-Verträge mit Werbepartnern eingespielt. Die „Miss Germany“ des vergangenen Jahres, die Kielerin Leonie von Hase, hat in Interviews angedeutet, sie hätte sich das anders vorgestellt, mit mehr Reisen und mehr Auftritten, aber für so eine Pandemie kann ja keiner was.

Nun drängeln sich allerdings auch schon länger nicht mehr Hunderte Zuschauer im örtlichen Einkaufzentrum um den Vorwahlen zur „Miss Irgendwas“ beizuwohnen. Auch vor Corona war aus diesen Events kaum noch Umsatz zu generieren.

Vor zwei Jahren trat der Mittzwanziger Max Klemmer in die Unternehmensführung ein und verpasste dem Ganzen einen gründlichen Relaunch. Seither geht es um „Vielfalt“ und „Akzeptanz“, um „Charakter“ und „Empowerment“ – und darum, die Präsenz auf den verschiedenen Social-Media-Kanälen, insbesondere Instagram, deutlich auszubauen. Das ist die jüngste Wende in der Geschichte der Miss-Wahlen, die natürlich noch viel weiter zurückreicht als die drei Generationen Klemmer – und viel kurioser ist.

Der erste „richtige“ Miss-Wahl verortet nicht nur Wikipedia im Jahr 1888 im belgischen Strandbad „Spa“. Natürlich gibt es lokale Bräuche, die darin bestehen, zu bestimmten Anlässen oder Feierlichkeiten die schönste Jungfrau des Ortes zu küren und dann vorweg paradieren zu lassen. Die sind teilweise sehr viel älter, aber Spa gilt als der erste formalisierte Wettbewerb – und natürlich diente er gleich der Tourismuswerbung.

Weil ein solches Sich-zur-Schau-Stellen noch als unschicklich galt, mussten die Damen sich schriftlich bewerben, und die Finalistinnen wurden von der Jury hinter verschlossenen Türen gekürt. Es gewann eine 18-jährige Kreolin aus Guadeloupe, die in Paris lebte und ob ihrer „exotischen Schönheit“ gepriesen wurde.

Auch das ein Kuriosum, denn diese Art von Wettbewerben sollten danach sehr schnell, sehr weiß werden und es lange bleiben. So richtig populär wurden die Masche vor allem über die amerikanischen Seebäder, die ab den 1920er-Jahren Schönheitswettbewerbe veranstalteten und die Maßstäbe setzten, die dann auf den Rest der Welt überschwappten.

1970 protestierten Feministinnen in London

Erst im vergangenen Jahr erschien – kaum beachtet – der Film „Die Misswahl – Der Beginn einer Revolution“, der von der „Miss World“-Wahl 1970 in London erzählt. Damals wurde die erste schwarze „Miss World“ gekürt, Jennifer Hosten, angetreten als „Miss Grenada“. Gleichzeitig sorgte die britische Frauenbewegung mit Mehltüten-Würfen für Tumult und eine spektakuläre Unterbrechung der Show. Höhepunkt des Films ist die fiktive Begegnung einer weißen Feministin, gespielt von Kira Knightley, und Gugu Mbatha-Raw als schwarzer Schönheitskönigin in einer Toilette.

Diese erfundene Episode zeigt die Ambivalenz, mit der das Thema besetzt ist: Denn natürlich gab es immer auch Frauen, die solche Wettbewerbe als Chance zum Aufstieg und zum Ausbruch begriffen, wie es das Haus der Geschichte in der 1999er-Ausstellung „Miss Germany – eine schöne Geschichte“ herausgearbeitet hat.

So richtig viele der ehemaligen Missen sind allerdings nicht im Gedächtnis geblieben. Googelt man danach, stößt man auf immer die gleichen drei Namen: Dagmar Wöhrl, „Miss Germany“ 1977, die später als CSU-Politikerin und Unternehmerin Karriere machte. Petra Schürmann, „Miss World“ 1954, die später als Moderatorin und Schauspielerin erfolgreich war. Und Verona Feldbusch, „Miss Hamburg“, „Miss Germany“, „Miss Intercontinental“ und „Miss American Dream“ Anfang der 90er-Jahre, die anschließend Karriere als, nun ja, Verona Feldbusch machte. Das ist keine sehr große Ausbeute aus mehr als hundert Jahren ­Miss-Wahlen.

Brecht und die Dietrich gaben sich für Miss-Wahlen her

In Deutschland starteten die im Kaiserreich und erlebten in der Weimarer Republik einen ersten Höhepunkt. Prominente wie Bertolt Brecht und Marlene Dietrich gaben sich dafür her, „kesse Berliner Fräuleins“ als Idealtypus der Zeit witterten die Chance, mit ein paar Modeschauen auf einen Schlag mehr Geld einzufahren als ein Fabrikarbeiter im ganzen Jahr. Unter den Nazis wurden Miss-Wahlen verboten, galten als dekadent und internationalistisch, man wollte lieber Wein- und Ernteköniginnen küren. In den Fünfzigerjahren, im Konsumrausch des Wirtschaftswunders, erlebten die Misses dann ihr großes Comeback.

Aber natürlich begann auch hierzulande die Frauenbewegung bald an der „Fleischbeschau“ herumzunörgeln. Obwohl es bis heute so ist, dass keinesfalls zu viel Fleisch gezeigt werden darf. Noch immer, auch im Jahr 2021, muss eine „Miss Germany“-Bewerberin versichern, dass keine Nacktbilder von ihr in Umlauf sind.

Die Miss-Wahlen sind weniger Fleischbeschau als vielmehr Zuchtstuten-Auktion. Wobei es selbstredend immer um das Potenzial ging, nicht ums Tatsächliche: Mütter sind erst seit 2019 zugelassen

Traditionell ging es bei dem Contest eben eher darum, die grundsätzliche Eignung als bürgerliche Ehefrau zu demonstrieren – Übungen in Etikette, eine gute Figur im Abendkleid und die Fähigkeit, auf Fragen der Jury in ganzen, möglichst patriotischen, Sätzen zu antworten, gehörten jahrzehntelang zum Standard. Weniger Fleischbeschau als vielmehr Zuchtstuten-Auktion, könnte man sagen – wenn man denn in der menschenverachtenden Viehmarkt-Terminologie bleiben will. Wobei es selbstredend immer um das Potenzial ging, nicht ums Tatsächliche: Mütter sind bei der „Miss Germany“ erst seit 2019 zugelassen.

Das gehört also zu den Dingen, die sich geändert haben, eines aber nicht: Am Ende gilt dasselbe Prinzip wie beim legendären Highlander – es kann nur eine geben. Das macht die ganze Angelegenheit ein bisschen schwierig und krampfig, wenn man einen Wettbewerb ausrichtet, der eigentlich keiner mehr sein will, am Ende aber doch ein Ergebnis haben muss.

Maße kann man vergleichen, Schönheit liegt zwar im Auge des Betrachters, wird aber dann doch von vielen Menschen erstaunlich ähnlich empfunden, sodass man irgendwie abstimmen kann – aber Persönlichkeit, Charakter, Authentizität? Wie misst, gewichtet, bewertet man das denn?

Mit dem Social Performance Indicator (SPI), behauptet die freundliche Familienfirma aus Oldenburg. Wie das genau funktioniert, bleibt aber bei der diesjährigen Show – die als Livestream auf Youtube übertragen wurde und nachzusehen ist – über weite Strecken ihr Geheimnis.

Es gibt eine Jury und eine App, in der Zuschauer mitbestimmen können. Dann werden von den 16 Finalistinnen jeweils zwei auf dem Laufsteg nach vorn gebeten. Eine kommt weiter und die andere muss in der „support her lounge“ Platz nehmen und für den Rest des Abends Beifall klatschen. Dauernd wird betont, dass eigentlich alle Gewinnerinnen seien, wie am „Jedes Kind bekommt eine Medaille“- Tag bei den Simp­sons. Die Spannungskurve rangiert dann auch irgendwo zwischen der Verleihung der Bundesjugendspiele-Teilnahmebescheinigungen und der Ziehung der Lottozahlen, wenn man keinen Schein abgegeben hat.

Immerhin gewinnt am Ende auch nicht die mit der dramatischsten Lebensgeschichte, wie man hätte befürchten können. Anja Kallenbach (33) aus Thüringen punktete mit ihrem Bekenntnis zur gebrochenen Bildungsbiografie, absolvierte nach Umwegen trotzdem noch ein BWL-Studium und führt jetzt als leidenschaftliche Mountainbikerin zwei Fahrradgeschäfte mit ihrem Partner, während sie nach eigener Auskunft „eine gut organisierte Mama“ von zwei Söhnen ist.

Oldenburg als Kaderschmiede für Influencerinnen?

Zumindest als PR-Konzept ist die Sache wohl vorläufig aufgegangen: Lokal- und Regionalzeitungen berichteten über die jeweiligen Kandidatinnen, ihre Geschichten, ihre Anliegen und ihr Abschneiden. Auch große überregionale Medien widmeten dem neuen Konzept Aufmerksamkeit, es gab Berichte im Deutschlandfunk, Spiegel, Tagesspiegel, sogar der FAZ– und der taz. Fraglich ist allerdings, was davon übrig bleibt, wenn der Lack des Neuen ab ist. Aber vielleicht steht in Oldenburg ja demnächst eine Kaderschmiede für Influencerinnen.

Die mit Abstand lustigste und herzerwärmendste Dekonstruktion des Schönheitswettbewerbe-Irrsinns liefert übrigens immer noch die US-Komödie „Little Miss Sunshine“ aus dem Jahr 2006. In der begibt sich eine dysfunktionale Familie in einem altersschwachen VW-Bus auf eine Tour durch mehrere Bundesstaaten, weil die kleine, pummelige, hasenzähnige und dickbebrillte Olive beschließt, ihren Lebenstraum zu erfüllen und bei einem nationalen Schönheitswettbewerb für Kinder mitzumachen. Spoiler: Sie wird keine Gewinnerin und führt trotzdem alle vor. Und das ist auch schon alles, was man über Miss-Wahlen wissen muss.

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