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Unbeachtete Gewalt

In Gröpelingen ist 2018 ein vermutlich wohnungsloser Mann krankenhausreif geschlagen worden. Bei der Gerichtsverhandlung wurde nun deutlich, wie schwierig es ist, solche Fälle zu verhindern und aufzuklären

VonFranziska Betz

Es ist der 1. Oktober 2018. Um 12 Uhr mittags wird ein Mann in Gröpelingen in der Einfahrt zu einem Supermarkt zusammengeschlagen. Au­gen­zeu­g*­in­nen berichten von Tritten und Schlägen gegen Kopf und Gesicht. Die beiden Täter hätten sich abgewechselt und immer wieder zugetreten, sagt ein Zeuge. „Das ganze Blut ist in die Luft geflogen“, erzählt eine andere Zeugin. „Ich war traumatisiert, ich kann kein Blut sehen und musste mich danach übergeben.“ Im Krankenhaus wird beim Verprügelten später eine Gehirnerschütterung festgestellt.

Der Betroffene selbst kommt bei der Verhandlung vor dem Bremer Amtsgericht am Freitag nicht zu Wort. Er ist nicht aufzufinden, soll vorzeitig aus dem Krankenhaus abgehauen sein. Wahrscheinlich ist er wohnungslos. Ob er überhaupt noch in Bremen lebt, ist unklar.

Ein brutaler Angriff, ein Angegriffener, der sich nicht helfen lassen will – und Passant*innen, die vorbeilaufen, statt einzugreifen: All das ist über zwei Jahre später Gegenstand der Verhandlung. Der zuständige Richter lässt schon zu Beginn durchblicken, dass die Aussichten auf eine Verurteilung schlecht sind.

Bei der Verhandlung setzt sich langsam folgendes Bild zusammen: An einem Montag im Oktober wird vor einem Supermarkt gemeinsam getrunken, man teilt sich eine Flasche Wodka. Einer der drei oder vier anwesenden Personen hat sie gerade aus dem benachbarten Rewe geklaut. Der Richter bezeichnet die Beteiligten später als Mitglieder des „Trinkermilieus“. Einer will von einem anderen ein paar Euro. Dieser will das Geld aber lieber für sich behalten. Er sitzt auf dem Boden, an eine Wand gelehnt. Zwei der Männer greifen ihn an.

Nach dem ersten Schlag bricht er zusammen, wehrt sich nicht, weil er zu betrunken ist. Der Betroffene selbst spricht später laut Polizeibericht, den der Richter zitiert, davon, dass ihm mit einer Flasche auf den Kopf geschlagen wurde. Danach sei er getreten worden. Einer der Angreifer hätte ihm sein Handy und seine Geldbörse aus der Kleidung geklaut. Später sei er dann im Krankenhaus aufgewacht, wo er der Polizei den Namen des Angeklagten genannt haben soll.

Ein Zeuge im Gerichtssaal berichtet von Pas­san­t*in­nen, die einfach vorbeigelaufen seien – ohne zu helfen. Und davon, dass die Täter und der Verletzte verschwunden gewesen seien, als die Polizei eintrifft. Später hätten der Zeuge und die Be­am­t*in­nen ihn in einer Seitenstraße wiedergefunden und ins Krankenhaus gebracht. „Lassen Sie mich in Ruhe, mir geht es gut“, habe er gesagt. Im Krankenhaus hat er es wohl nicht lange ausgehalten, erklärt dann der Richter.

Nach gut zwei Stunden endet die Verhandlung mit einem Freispruch. Der Angeklagte kann nicht als einer der Täter identifiziert werden. In der Urteilsbegründung ordnet der Richter die Tat trotzdem ein: „Es ist natürlich eine Schande, wenn man sich anhört, wie die Tat begangen wurde, dass die Passanten vorbeilaufen. Keiner hält die Täter auf. Was da passiert ist, ist ein Unding.“

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