Buch „Why we matter“: Den Blickwinkel wechseln

Die Aktivistin und Politikwissenschaftlerin Emilia Roig erzählt in „Why we matter“ entlang ihrer eigenen Biographie, wie Rassismus funktioniert.

Emilia Zenzile Roig

Emilia Roig fodert mehr Empathie bezügliche marginalisierter Gruppen Foto: Jens Kalaene/dpa

Es ist nicht lange her, da las ich unter einem Onlinebeitrag über strukturellen Rassismus den Kommentar einer weißen Deutschen, sie selbst habe noch nie Rassismus erlebt. Was nach Realsatire klingt, illustriert auf tragikomische Weise nicht nur mangelnde Empathie, sondern auch die Unfähigkeit, sich eine andere Realität als die eigene vorzustellen. Um den Wechsel des Blickwinkels, stärker noch, um die Dekonstruktion dessen, was viele weiße Menschen als „Normalität“ annehmen, geht es Emilia Roig in ihrem Buch „Why we matter“.

Roig ist Politologin, musste sich in einem weiß und häufig männlich geprägten Wissenschaftssystem etablieren und behaupten. Geboren wurde sie in Frankreich, als Tochter einer schwarzen, aus Martinique stammenden Mutter und eines weißen, jüdisch-algerischen Vaters. Später absolvierte sie ihr Studium in Deutschland.

Roig kennt beide Wissenschaftssysteme – das französische und das deutsche – und hat in beiden Diskriminierungserfahrungen gemacht. Zugleich stieß sie im Rahmen ihrer wissenschaftlichen Ausbildung auf jene theo­re­tischen Ansätze, die ihren Blick für die systemischen Ungerechtigkeiten schärfte.

Emilia Roig: „Why we matter“. Aufbau Verlag, Berlin 2021, 397 Seiten, 22 Euro

„Mein familiärer Background, meine Lebenserfahrungen und meine Arbeit haben mich dazu gebracht, das engmaschige Gefüge des kapitalistischen, patriarchalen, auf der weißen Vorherrschaft basierenden Systems zu dekonstruieren; sie haben mir die Kapazität verschafft, ein anderes Narrativ zu artikulieren, das meine Existenz und Sichtweise reflektiert …“

Ein Handlungsaufruf

Stark ist bereits der Titel des Buchs: „Why we matter“. Das kann heißen: Warum wir wichtig sind / etwas zählen. Es kann aber auch so viel heißen wie: Warum es auf uns ankommt. So ist der Titel mindestens zweierlei: Anlehnung an den Slogan „Black Lives Matter“; er kann aber auch als Handlungsaufruf gelesen werden. Wer, wenn nicht Schwarze und PoC könnten die zirkulierenden Diskurse über „Rasse“, Klasse und Wissen um eine andere Perspektive bereichern?

Am stärksten ist der Text, wo er die persönlichen Erfahrungen mit Theorien und Diskursen überblendet. Erstens, weil es noch dem letzten Zweifelnden klarmachen sollte, dass diskriminierende Erfahrungen weder Einbildung noch „Überempfindlichkeit“ sind. Zweitens, weil diese Erfahrungen viel anschaulicher sind als abstrakte Theorie.

Man liest beispielsweise mit einer Mischung aus Erstaunen und Entsetzen, dass die weißen Großeltern väterlicherseits ihren Rassismus auch vor der dunkelhäutigen Schwiegertochter und den Enkelkindern äußern – aber diese Großeltern sind zugleich liebevoll und gutherzig. Es handelt sich wohl um einen extremen Fall von kognitiver Dissonanz: Die vermeintlich negativen Eigenschaften Schwarzer treffen „natürlich“ nicht auf die eigenen Enkelkinder zu.

An manchen Stellen allerdings will der Text zu viel. Ausgehend von der Einsicht, dass Diskriminierungsformen nicht unabhängig voneinander existieren, dass es also interdependente Diskriminierungsmuster gibt, geht Roig all diesen Verschränkungen nach; allerdings touchiert sie die Phänomene bisweilen zu oberflächlich.

Welches Wissen anerkannt wird

So wenn sie im Kapitel zu der Frage, wer festlegt, wessen Wissen anerkannt wird, auf euro­päi­sche Hexenverbrennungen eingeht und sie als Versuch, weibliches Wissen in den Bereichen Medizin und Pflanzenkunde zu tilgen, liest. Das entspricht einer überholten feministischen Theo­rie, die komplexere soziale Zusammenhänge ausblendet und ignoriert, dass auch Männer Opfer von Hexenverfolgung wurden.

Das ist ein harmloses Beispiel. Problematischer ist es, wenn Roig mit Blick auf deutsche Kolonialverbrechen und den Völkermord an Herero und Nama beklagt, dass die Schoah als singuläres Ereignis der deutschen Geschichte gedeutet wird. Die völlig gerechtfertigte Klage über die mangelnde Anerkennung deutscher Schuld im Falle der Herero und Nama konstruiert so unnötig eine Opferkonkurrenz.

Es gibt gute Gründe, die Schoah mit ihrem indus­trie­mäßig durchgeführten millionenfachen Morden – und die damit verbundene Schuld – als zentralen Punkt jüngerer deutscher Geschichte zu betrachten. Außerdem sind es ausgerechnet Rechte, die den singulären Status der Schoah negieren.

Worum es Roig verständlicherweise geht, ist der Umstand, dass Schwarze Leben nicht im selben Maße betrauert werden wie weiße. Dass weder Schuldeingeständnis noch Buße erfolgen. Das ist in der Tat unerhört.

Vermeintlich Weißes und Nichtweißes

Aber bei ihrem Versuch, Wissenshierarchien zu dekonstruieren, tappt sie in die Falle, neue Kategorien vermeintlich weißen oder nichtweißen Wissens zu konstruieren. Nicht die arabischen oder afrikanischen Mathematiker, Astronomen oder Mediziner, von der Antike bis heute, bringt sie gegen die Annahme weißer Wissensüberlegenheit in Stellung; stattdessen betont sie die Bedeutung von Voodoo, Astrologie und Parapsychologie als andere Form des Wissens. Ist das nicht Fortschreibung von Stereotypisierung?

Und doch: Trotz dieser Schwächen ist „Why we matter“ lesenswert, vor allem wegen seiner klaren, eindringlichen Sprache.

Einmal zahlen
.

Fehler auf taz.de entdeckt?

Wir freuen uns über eine Mail an fehlerhinweis@taz.de!

Inhaltliches Feedback?

Gerne als Leser*innenkommentar unter dem Text auf taz.de oder über das Kontaktformular.

Wir würden Ihnen hier gerne einen externen Inhalt zeigen. Sie entscheiden, ob sie dieses Element auch sehen wollen.

Ich bin damit einverstanden, dass mir externe Inhalte angezeigt werden. Damit können personenbezogene Daten an Drittplattformen übermittelt werden. Mehr dazu in unserer Datenschutzerklärung.

Bitte registrieren Sie sich und halten Sie sich an unsere Netiquette.

Haben Sie Probleme beim Kommentieren oder Registrieren?

Dann mailen Sie uns bitte an kommune@taz.de.