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Helle und der Atommüll

36 Menschen leben in dem kleinen Dörfchen Helle 140 Kilometer nordwestlich von Berlin. Ein Salzstock macht es zum möglichen Standort eines Atommüllendlagers. An diesem Wochenende findet die erste bundesweite Konferenz zur Bürgerbeteiligung bei der Standortsuche statt. Auch die Leute aus Helle möchten mitbestimmen

Von Beate SeldersFotos Christian Thiel

Deutschland sucht ein Atommülllager“, könnte das Motto dieses Wochenendes heißen, wenn die Sache nicht so ernst wäre. 27.000 Kubikmeter hochradioaktiver Müll müssen unter die Erde. Das Suchverfahren nach einem Standort soll partizipativ, transparent, selbsthinterfragend und lernend sein, so schreibt es das eigens hierfür geschaffene Standortauswahlgesetz vor. An diesem Wochenende beginnt mit der ersten „Fachkonferenz Teilgebiete“ der formelle Bürgerbeteiligungsprozess bei der Suche nach einem geeigneten Standort für ein Endlager für den bundesdeutschen Atommüll. Jeder soll sich beteiligen können, alle sollen mitgenommen werden, damit der soziale Frieden gewahrt bleibt.

Doch Gründe für Zweifel, dass es eine wirkliche Bürgerbeteiligung wird oder am Ende nur eine Show, gibt es viele. Einer ist der enge Zeitplan: Es geht um unvorstellbare eine Million Jahre, die der strahlende Müll sicher gelagert werden muss, aber alle fühlen sich gehetzt durch ein Verfahren, das mit Zeit geizt. Beteiligung aber braucht Zeit und lebendige Begegnung, die angesichts der Pandemie nicht möglich ist.

Welche Konsequenzen das hat, sieht man in Helle, einem kleinen Dorf in der Prignitz, 140 Kilometer nordwestlich von Berlin in Brandenburg. Als die Bundesgesellschaft für Endlagerung BGE am 28. September 2020 ihren Zwischenbericht nach der ersten Phase der Datenrecherche veröffentlicht, ist auch der Salzstock Helle unter den 90 potenziellen Erkundungsstandorten – für alle dort und im Umkreis ein Schock.

Helle hat 36 Einwohner und einige Wochenendpendler. Jeder kennt jeden, aber dass man auf einem Salzstock lebt, der den Namen des Ortes trägt, wusste niemand. Der Bürgermeister erinnert sich später, dass in den 1970er Jahren nach Braunkohle und Gas gebohrt wurde. Aber von Salz war nie die Rede.

Das Dörfchen Helle gehört zur Gemeinde Groß Pankow. In deren Rathaus laufen in den letzten Septembertagen die Telefone heiß. „Wie das Verfahren funktioniert, ist viel zu komplex für eine Schlagzeile“, sagt Bürgermeister Marco Radloff rückblickend, „da kommt bei den meisten nur an: Helle wird Atommülllager“.

Sogar direkt ins Rathaus kamen die Leute und wollten wissen, was los ist. Das ist bemerkenswert in einer Gemeinde, die sich über eine Fläche von 250 Quadratkilometern erstreckt. Ende September vergangenen Jahres war unter Auflagen im Rathaus noch Publikumsverkehr zugelassen.

Unter anderen Bedingungen hätte der Gemeinderat zu einer Informationsveranstaltung in die Turnhalle der Grundschule eingeladen. Man hätte über das mehrstufige Such- und Beteiligungsverfahren informieren können, mit ausreichend Raum für Fragen und wahrscheinlich lebhafter Diskussion. Doch das geht coronabedingt auf unabsehbare Zeit nicht. Der Beteiligungsprozess, bei dem alle mitgenommen werden sollen, ist damit gleich am Anfang ins Stocken geraten.

In Helle versucht man, sich erst mal zu sammeln. Das kleine Dorf ist idyllisch, umgeben von viel Wasser und Wald, Natur- und Vogelschutzgebieten. Die meisten Häuser stehen im Kreis um eine mit Feldsteinen eingehegte Wiese, in der Mitte die kleine Kirche und der Mast mit dem Storchennest. Anfang Oktober ist es noch warm genug, sich hier im Freien zu einem ersten Austausch zu treffen. Die Ortsvorstehenden mehrerer benachbarter Dörfer sind gekommen, auch der Bürgermeister. Es wird vor allem über Ängste gesprochen und die Wut darüber, so überrumpelt worden zu sein. Alle haben es aus der Zeitung erfahren.

Ende Oktober gibt es ein zweites Treffen auf dem Kirchplatz. Eine Initiative soll gegründet werden. Die Auftaktveranstaltung für das formelle Beteiligungsverfahren „Fachkonferenz Teilgebiete“ hat da schon stattgefunden – als Onlineformat, denn Treffen in geschlossenen Räumen sind coronabedingt untersagt.

„Ich würde hier gerne unbedarft weiterleben. Aber man möchte den Müll auch niemand anderem zumuten. Am Ende muss er ja irgendwohin“

Jutta Röder aus Helle

Auch die Versammlung in Helle unter freiem Himmel kann nur stattfinden, weil sie als politische Veranstaltung angemeldet ist. Wer kommen will, soll einen Klappstuhl und eine Decke mitbringen. Der Stuhlkreis ist groß. Dreißig Namen stehen am Ende auf der Interessiertenliste mit Adressen in Dörfern wie Wolfshagen, Kuhsdorf, Hasenwinkel und Bullendorf; Ortsnamen, die viel über den Charakter dieses Landstrichs aussagen. Viele haben Sorge, dass der Müll am Ende dahin kommt, wo die wenigsten Menschen leben. Und das ist in Deutschland der Landkreis Prignitz mit 36 Einwohnern pro Quadratkilometer, in der Gemeinde Groß Pankow sind es sogar nur 15.

In der Runde für das Stimmungsbild fühlen sich viele einig miteinander, aber genauer betrachtet gehen die Positionen auseinander, von „Hier nicht“ über „Wir müssen alle Verantwortung tragen“ bis zur Infragestellung der Endlagersuche, der Wissensstand sowieso. Ideen werden gesammelt. Der Vorschlag, eine große Informationsveranstaltung zu machen, taucht immer wieder auf, stets gefolgt von einem „Stimmt, ist ja nicht möglich“. Man muss jetzt völlig umdenken. Es ist kalt. Bevor die Runde für das Stimmungsbild zu Ende ist, wird es dunkel. Dann fängt es auch noch an zu regnen. Das war das letzte Treffen. Ab dem nächsten Tag gilt in der Prignitz die Stufe zwei der Pandemiemaßnahmen, und alles geht nur noch online. Per Mail werden nun also Ziele, Anliegen, Themen und Vorschläge für Arbeitsgruppen gesammelt. Die ersten Zoomtreffen finden statt. Die Onlinekommunikation schließt viele aus. Aber es sind immer noch acht, manchmal sogar zwölf dabei. Ein Name muss für die Initiative gefunden werden und wird heftig diskutiert. Die Mehrheit ist zunächst für „Atommüllfreie Prignitz“. Am Ende heißt sie „Wohin damit“.

Dazwischen liegen nicht nur viele Diskussionen, sondern auch die Auseinandersetzung mit der eigenen Zerrissenheit. Für Jost Löber war der Punkt am schwierigsten: sich einzugestehen, dass das Zeug aufbewahrt werden muss, er seine Lebenswelt aber nicht dafür zur Verfügung stellen will. Wegen der Kinder. „Das ist eine Zerreißprobe. Rational und emotional fallen völlig auseinander. Zigtausend Menschen in ganz Deutschland geht das gerade ähnlich“, sagt er. Jost ist vor 30 Jahren in das Nachbardorf Horst gezogen. Er ist Künstler und hat sich hier eine Existenz aufgebaut, so wie viele, die in den 90er Jahren kamen. Da gibt es viel zu verteidigen.

Jutta Röder ist mit 67 Jahren die Älteste in der Gruppe und schon zu DDR-Zeiten nach Helle gezogen. Die pensionierte Lehrerin sieht die Lage nach dem ersten Schock pragmatisch: „Ich würde hier gern unbedarft weiterleben. Aber man möchte den Müll auch niemand anderem zumuten. Am Ende muss er ja irgendwohin.“ Alles hängt von der Transparenz und der Glaubwürdigkeit des Standortauswahlverfahrens ab, darin sind sich alle Mitglieder der Initiative einig.

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