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Balkonkonzert plötzlich unter Straftat-Verdacht

Die Polizei definiert ein wöchentliches Konzert in St. Pauli als „politische Versammlung“ und notiert Personalien. Die InitiatorInnen haben eine Demo gegen „Kriminalisierung“ angemeldet

Singen erlaubt, reden nicht, sonst kommt die Polizei Foto: Sven Hoppe/dpa

Von Petra Schellen

20-mal ist es gut gegangen, beim 21. Mal nicht: Da haben PolizistInnen das allwöchentliche Solidaritäts-Balkonkonzert am Hein-Köllisch-Platz in St. Pauli rigoros unterbrochen. „Sie haben mitten in unserer Gedenkminute für Hamburgs über 1.000 Coronatote an meiner Tür geklingelt“, erzählt Rentner und Mit-Initiator Stephan Brandt.

Dabei habe er nichts Strafbares getan: Gemeinsam mit seiner Ehefrau hat er auf dem Balkon im ersten Stock des Mietshauses gestanden und Texte verlesen. Die handeln jeweils von der aktuellen Coronalage, aber auch davon, wo es gerade FFP2-Masken gibt; auch ein Dank an ÄrztInnen und ApothekerInnen ist mal dabei, vor allem aber ans Pflegepersonal. Dessen Würdigung war international Auslöser der Balkonkonzerte gewesen.

Umrahmt werden die Texte von Livemusik einer Sängerin und eines Gitarristen auf einem Balkon im sechsten Stock. Das alte Partisanenlied „Bella Ciao“ und das chilenische „Gracias a la vida“ sind da oft zu hören –das alles zur Freude vieler AnwohnerInnen sowie einiger PassantInnen, mit Abstand und Maske.

„Wir haben stets auf die Einhaltung der Gesundheitsmaßnahmen geachtet, dies auch immer öffentlich vertreten und mit unseren Aktionen die Notwendigkeit der Maskenpflicht, der Impfungen, der Abstandsregeln vertreten“, sagt Brandt. Ohnehin plädiere er für einen harten Lockdown, damit die Pandemie ein schnelleres Ende finde, „und ja, der Ansatz ist schon insofern antifaschistisch, als wir von Anfang an auch gegen die ,Querdenker‘ protestiert haben“.

Diese Art Konzerte haben die vier InitiatorInnen in der ersten Coronawelle im Frühjahr 2020 begonnen und in der zweiten vor Weihnachten wieder aufgenommen. Es habe nie jemanden gestört, sagt Brandt. Vorigen Donnerstag aber kamen PolizistInnen, um die Personalien der AkteurInnen und der Zuhörerschaft aufzunehmen. Es bestehe der Verdacht auf eine „nicht erlaubte beziehungsweise angemeldete politische Versammlung und damit um eine Straftat“, habe man ihm gesagt, erzählt Brandt.

Dabei müsse man coronakonforme Veranstaltungen auf dem eigenen Balkon nicht anmelden, sagt er. Ob die zuständige Sozialbehörde das auch so sieht, beantwortete deren Pressestelle auf taz-Anfrage nicht.

„Sie haben mitten in unserer Gedenkminute für Hamburgs 1.000 Coronatote an meiner Tür geklingelt“

Stephan Brandt, Initiator der Balkonkonzerte

Die Polizei indes erklärte, die Balkonkonzerte „beschränkten sich nach unseren Erkenntnissen bislang auf das Abspielen von Musik und das Singen von Liedern“. Am 28. Januar habe es aber auch Redebeiträge gegeben, „sodass ein Versammlungscharakter gegeben war“. Da keine Versammlungsanmeldung vorgelegen habe, sei dies eine Straftat. Brandt widerspricht: „Kurze Redebeiträge gab es bei jedem Konzert. Nur, dass wir diesmal auch ein Grußwort des Airbus-Betriebsrats verlesen haben.“

Und weil die InitiatorInnen das ganze Prozedere nicht hinnehmen wollen, haben sie für diesen Donnerstag eine Protestkundgebung „gegen die Kriminalisierungsversuche der Polizei“ angemeldet. Sie fordern die Einstellung aller Verfahren sowie eine Entschuldigung der Polizei.

Doch das Anliegen der InitiatorInnen reicht noch weiter: Sie wollen „nicht schweigen zu dem Berliner Krisenchaos, dem Missmanagement bei der Impfung, dem Herunterspielen der Gesundheitsgefahren insbesondere in den Großbetrieben, in überfüllten Bussen und Bahnen und einer desaströsen Schulpolitik auf dem Rücken der Eltern, Lehrer, Kinder“, heißt es im jüngsten „Balkonbrief“.

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