Studierenden-Proteste in der Türkei: Aus der Uni auf die Barrikaden
In Istanbul protestieren seit Tagen Studierende gegen die Aushebelung der Autonomie ihrer Universitäten. Die Polizei geht mit Härte gegen sie vor.
Die Soziologiestudentin ist von der Boğaziçi-Universität, an der seit Tagen dagegen protestiert wird, dass der türkische Präsident Recep Tayyip Erdoğan ihr zu Beginn des neuen Jahres einen neuen Universitätsrektor vor die Nase gesetzt hat. Vorgeschlagen wurde Melih Bulu nicht von den Institutionen der Universität. Er soll als Parteimann des Präsidenten die renommierteste Istanbuler Universität auf die konservative, religiöse Linie der Regierung bringen.
„Wir lassen uns das nicht gefallen“, sagt Deniz, „wir werden nicht mehr schweigen“. In diesem Moment legt eine Fähre von der europäischen Seite Istanbuls mit hunderten Studenten an Bord in Kadıköy an. „Weg mit Melih Bulu“, skandieren sie noch an Bord, „wir wollen unsere Freiheit“. Mit begeistertem Klatschen werden sie empfangen. Trotz großen Polizeiaufgebots ist die Stimmung ausgelassen. „Sie versuchen uns einzuschüchtern“, sagt Merjem, eine Freundin von Deniz, „aber wir haben keine Angst“.
Das ist erstaunlich, denn in den vergangenen Tagen ist die Polizei mit Härte gegen die protestierenden Studenten der Boğaziçi-Universität vorgegangen. Bereits bei ersten Protesten am Montag, zu denen es spontan nach dem Bekanntwerden der Personalie auf dem historischen Campus in den Hügeln über dem Bosporus kam, ging die herbeigerufene Polizei mit Gewalt vor.
Tränengas, Pfefferspray und Polizeiknüppel kamen zum Einsatz, es gab Verletzte und Festnahmen. Weitere Studierende wurden im Morgengrauen des Dienstags von der Polizei aus dem Bett geholt und abgeführt. Nach Aussagen ihrer AnwältInnen mussten sie sich nackt ausziehen und wurden geschlagen. Am Mittwoch wurden insgesamt 36 Studierende festgenommen.
Offener Brief der Lehrkräfte
In einem offenen Brief meldeten sich daraufhin auch Lehrkräfte der Universität. Sie verurteilten die Gewalt und den Angriff auf die Autonomie der Universität und die Freiheit der Lehre. Edhem Eldem, ein international bekannter Historiker und Professor an der Boğaziçi, sagte gegenüber der taz: „Unsere gesamte Fakultät setzt sich für die Freilassung der Studierenden ein. Unserer Meinung nach ist der Einsatz der Polizei völlig unverhältnismäßig“.
Auch in der Sache ist offenbar ein Großteil der AkademikerInnen der Universität mit den Protestierenden einer Meinung. „Das Vorgehen der Regierung verletzt die Autonomie und die akademische Freiheit der Universität“, bestätigt Eldem die Haltung der Studierenden. „Es gehört zu den Prinzipien der Boğaziçi-Universität, dass alle wichtigen Posten durch gewählte VertreterInnen besetzt werden und Universitäten grundsätzlich von politischem Einfluss freigehalten werden sollen“. Melih Bulu gilt als Vertreter der regierenden AKP und Vertrauter Erdoğans.
Nachdem die Polizei am Dienstag das gesamte Universitätsgelände weiträumig abgesperrt hatte, entschieden die Studierenden, den Protest in die Stadt zu tragen. Nach einem Marsch entlang des Bosporus kam es am Mittwochnachmittag zu der Kundgebung in Kadıköy.
Etliche Universitäten haben sich mittlerweile dem Protest angeschlossen. Auch die parlamentarische Opposition unterstützt die Forderung nach Autonomie für die Universitäten. „Ich bin auf der Seite der Studenten und Akademiker der Boğaziçi-Universität“, twitterte Istanbuls Oberbürgermeister Ekrem İmamoğlu.
Aber auch der ehemalige Wirtschaftsminister Erdoğans, Ali Babacan, der mittlerweile eine eigene Partei gegründet hat, sagte: „Wir brauchen freie Wissenschaft und produktive Studenten. Diese Produktivität kann nicht durch die Ernennung politischer Rektoren erreicht werden“.
Edhem Eldem befürchtet, dass der neue Rektor die Universität zum akademischen Zulieferbetrieb für die Industrie umfunktionieren will. Noch, sagt er, sei das aber Spekulation. „Der Widerstand aller Fakultäten basiert auf der Verteidigung unserer Prinzipien“. Die Studierenden in Kadıköy sagten es während der Kundgebung noch direkter: „Wir haben die Nase voll von dem repressiven Regime. Wir werden nicht mehr still bleiben“.
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