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Schritt ins Ungewisse

Für Sehbehinderte lebensgefährlich: Seitdem am Jungfernstieg für Umbauten die Ampeln abgeschaltet wurden, fühlen sich Menschen mit Behinderung dort nicht mehr sicher, wenn sie über die Straße gehen. Ein Bündnis fordert mehr Teilhabe bei Verkehrsprojekten

Von Sarah Mahlberg

Wenn André Rabe über die Straße gehen will, muss er erst lauschen. Kommt ein Bus oder kommt gerade keiner? Mit seinem Blindenstock kann er die Noppen und Rillen der Boden­indikatoren spüren, ein Hinweis darauf, dass er gleich auf der Straße steht. Dabei hört er genau hin, ob sich ein Auto nähert.

„Gerade mit den ­E-Bussen ist das aber schwierig, die sind kaum zu hören. Genauso ­E-Roller oder Fahrräder, wenn es nicht gerade nass ist draußen“, sagt Rabe. Er ist zweiter Vorsitzender des Blinden- und Sehbehindertenvereins Hamburg (BSVH) und einer von etwa 2.300 blinden Menschen in Hamburg. Zudem sind 40.000 Hamburger*innen laut BSVH sehbehindert. Die Tendenz steige, weil die Menschen immer älter werden.

Lautlose Gefahr

„Oft gehe ich über die Straße und denke mir, na, kommt da vielleicht doch ein Bus?“, berichtet er. „Neulich dachte ich, einen kommen zu hören und meine Kollegin meinte, er sei sogar schon halb vorbei gewesen. Da war ich froh, dass ich doch lieber abgewartet habe.“ Deshalb gehe er deutlich lieber an Ampeln über die Straße – doch nicht immer ist das möglich und daran äußern Rabe und sein Verein Kritik.

Am Jungfernstieg gebe es, seitdem der Umbau im Oktober begonnen habe, keine „sichere Querung“ mehr, also weder Ampel noch Zebrastreifen. Am Jungfernstieg werden neue Radwege gebaut. Nur noch Taxis, Busse und Lieferverkehr sollen dort noch fahren.

Baustellen im Eilverfahren eingerichtet

Doch auch ohne Individualverkehr sei die Stelle für Menschen mit Behinderungen problematisch: „Wenn von links ein nicht hörbarer E-Bus angefahren kommt, ist eine sehbehinderte Person, die über die Straße will, überhaupt nicht geschützt“, sagt die Pressesprecherin des BSVH, Melanie Wölwer.

„Es darf einfach keine großen Verkehrsprojekte geben, bei denen die Bedürfnisse von eingeschränkten Personen nicht gesehen werden. Es werden zu schnell Dinge umgesetzt, die nicht für alle funktionieren.“ Die Ampel sei nur ein Beispiel.

Die Stadt, so geht es aus der Pressemitteilung hervor, die der Verein gemeinsam mit anderen Betroffenengruppen wie der Landesarbeitsgemeinschaft für behinderte Menschen, dem Landes-Seniorenbeirat oder der Lebenshilfe veröffentlicht hat, setze derzeit zahlreiche Verkehrsprojekte im Eilverfahren um. Dabei werde das Thema Barrierefreiheit oft vernachlässigt.

Der Blinden- und Sehbehindertenverein wünscht sich daher einen „Arbeitskreis Mobilitätswende“, der in künftige Bauprojekte mit eingebunden wird und die Bedürfnisse behinderter Menschen berücksichtigen soll. Das haben die Vereinsmitglieder auch Verkehrssenator Anjes Tjarks (Grüne) gegenüber gefordert – und der habe sofort Gesprächsbereitschaft signalisiert. „Zeitnah werden wir uns alle zusammensetzen“, sagt Wölwer. Für sie ist das ein Schritt in die richtige Richtung.

In der Verkehrsbehörde bezeichnet man die Abschaltung der Ampeln am Jungfernstieg als erste Umbauphase. „Verbände sind eingeladen, ihr Feedback zu geben, weshalb die Pressemitteilung des BSVH ein richtiger Schritt war“, sagt ein Sprecher. „Unsere Mobilitätswende soll inklusiv sein, Behindertenbeauftrage werden eigentlich immer mit einbezogen.“ Der Bezirk Mitte habe der Behörde auch zurückgemeldet, das sie dies bei den Ampeln am Jungfernstieg getan habe.

Der Bezirk Mitte bestätigt das. Vor jedem Bauvorhaben würden Behindertenverbände informiert, so auch hier. Ist also einfach in der internen Kommunikation etwas schiefgelaufen?

Mit Stock und Warnweste

Fraglich ist in jedem Fall, wie eine mehrspurige Straße ohne Ampeln als sicher eingeschätzt werden konnte. Nicht nur für blinde Menschen, auch für sehende Senioren und Kinder könnte sie ein Risiko darstellen. In der Verkehrsbehörde schätzt man das anders ein: „Am Boden sind Leitelemente und Bodenindikatoren für Sehbehinderte angebracht“, sagt deren Sprecher. Außerdem herrsche am Jungfernstieg ein Tempolimit von 30 Stundenkilometern.

Rabe bemerkt dazu nur trocken: „Wenn ich mit Tempo 30 überfahren werde, finde ich das auch nicht so ermutigend.“ Er ist sichtbar blind, trägt Blindenstock und Warnweste, trotzdem würden Autos und Busse selten anhalten, um ihn über die Straße zu lassen, sagt er.

Die Verbände fordern daher, dass „die Verkehrssicherheit für Menschen mit Behinderungen am Jungfernstieg umgehend wiederhergestellt“ wird. Der Erfolg der Mobilitätswende müsse sich daran messen lassen, inwieweit er die schwächeren Verkehrsteilnehmenden und deren Sicherheit berücksichtige.

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