Lin Hierse
Poetical Correctness
: Hier müssen wir nicht vom Krieg erzählen

Foto: privat

Es ist jetzt 2021. Das heißt nicht nur, dass wir seit bald einem Jahr in einer Pandemie leben, sondern auch, dass wir genauso lange um Worte und Bilder ringen, um das zu beschreiben, was mit und wegen Covid passiert. Von Krieg ist dabei oft die Rede. Nicht nur, aber vor allem von Männern. Im März 2020 sagt Donald Trump: „We’re at war with an invisible enemy.“

Im November sagt Joe Biden: “We are at war with a virus, not with each other.“ Dazwischen spricht UN-Generalsekretär António Guterres vom Krieg gegen das Virus, genauso Emmanuel Macron und Xi Jinping. Die Bundesregierung produziert einen Videoclip, in dem ältere Versionen unserer Selbst aus der Zukunft auf die Pandemie blicken und über ihr heldenhaftes Nichtstun berichten, wie sonst Zeitzeug:innen in Dokus über den Zweiten Weltkrieg.

Die Menschheit im Krieg gegen ein tödliches Virus – die Sprache ist drastisch und militarisiert. Wir kämpfen jetzt an Fronten. Wir durchleben Traumata. Wir zählen Opfer. Wir erschaffen Held:innen. Auch die Bundeskanzlerin nennt die Pandemie die größte Herausforderung seit Ende des Zweiten Weltkriegs. Warum dasselbe nicht längst über die geistigen und strukturellen Hinterlassenschaften von Nazi-Deutschland gesagt wurde, bleibt ein Rätsel.

Brauchen wir das alles, um zu verstehen, wie ernst es ist? Der Kriegszustand ist schließlich der schlimmste, den man erzählen kann. Im Krieg verlieren Menschen alles: Geschichte, Gegenwart, Zukunft, Leben. Wenn also Krieg ist, zieht Dieter vielleicht ausnahmsweise beim Einkaufen ein Stück Stoff über Mund und Nase, obwohl es die größtmögliche Einschränkung seiner „Freiheit“ ist?

Ich fürchte das Herbeireden vom Kriegszustand und dessen Nebenwirkungen. Wer oft genug hört, wir seien im Krieg, verhält sich auch so. Krieg legitimiert Egoismus als Überlebenskampf, stärkt Nationalismus. Krieg erlaubt die Einschränkung von Grundrechten, Krieg macht müde und raubt Hoffnung.

Wir müssen nicht von Krieg sprechen, um zu beschreiben, wie dramatisch das alles ist. Die Pandemie mag eine globale Krise, ein Ausnahmezustand sein. Eine Zeit, in der wir neu lernen müssen, Grundbedürfnisse und -rechte von Privilegien zu unterscheiden, und die die Systemfehler stärker denn je offenlegt. Aber nur, weil diese Dinge auch im Krieg passieren, ist der Zustand nicht derselbe.

Die Fünftage­vorschau

Do., 7. 1.

Mohamed Amjahid

Die Nafrichten

Fr., 8. 1.

Peter Weissenburger

Unisex

Mo., 11. 1.

Gilda Sahebi

Krank und Schein

Di., 12. 1.

Susan Djahangard

Sie zahlt

Mi., 13. 1.

Anna Dushime

Bei aller Liebe

kolumne@taz.de

Die Sprache, mit der wir die Welt beschreiben, ist wichtig. Das gilt auch für ihre drängendsten Probleme. Die Klimakrise ist dafür das beste Beispiel. Wir haben von ihr zu lange als etwas Zukünftigem gesprochen. Jetzt ist es längst später, der Handlungsdruck ist immens, aber wir werden auch sie nicht mit dem Kriegsnarrativ lösen können.

Die Antwort auf Naturkatastrophen liegt nicht im Krieg des Menschen gegen die Natur. Sie liegt in der ehrlichen Verhandlung mit uns selbst, in einer kritischen Neubewertung und radikalen Änderung unserer Lebensweisen. Es ist jetzt 2021. Wir brauchen andere Dinge als Krieg.