„Es scheint attraktiv zu sein“

Etwa 30 Prozent der Intensivbetten Berlins sind mit Coronapatient:innen belegt. Meike Jäger von Verdi über Leiharbeit auf der Coronastation

Am 12. Mai 2020, dem Internationalen Tag der Pflege, demonstrierten Pflegekräfte ifür bessere Arbeitsbedingungen Foto: Christian Mang

Interview Nicole Opitz

taz: Frau Jäger, Sie sind bei Verdi unter anderem zuständig für Berliner Kliniken, Pflegeheime und die Arbeitsbedingungen dort. Welche Rolle spielen Leiharbeitsfirmen zurzeit auf der Intensivstation?

Meike Jäger: Wir wissen, dass viele Pflegekräfte abwinken und sagen, Sie wollen nicht auf eine Coronastation. Andere springen in letzter Minute ab. Auch Leiharbeitnehmer:innen erkranken an Covid-19 und haben Angst.

Gerade jetzt, zur zweiten Welle, werden ja besonders viele Pflegende auf der Intensivstation gebraucht. Wie kann das Abspringen der Pflegekräfte verhindert werden?

Die Arbeitsverträge bei den Leiharbeitsunternehmen sind unterschiedlich gestaltet. Auch Leiharbeitnehmer:innen sind Beschäftigte, die Rechte haben. Für die Kolleg:innen auf der Station ist das allerdings immer wieder ein Thema: Die Leiharbeiter:innen übernehmen Dienste, die festangestellte Kolleg:innen vielleicht gerne selbst machen würden. Dadurch entsteht eine Art System der ersten und zweiten Klasse.

Sie meinen, dass die erste Klasse die Leiharbeitenden sind und die zweite Klasse die Festangestellten im Krankenhaus?

Ja, sozusagen. Die Festangestellten arbeiten ja nach dem Dienstplan und die Leiharbeiter:innen können sich aussuchen, wie sie arbeiten wollen. Es sind mittlerweile sehr viele Beschäftigte für Leiharbeitsfirmen tätig. Jeder kennt jemanden, der das macht, und das Verständnis ist groß. Leute haben häufig ihre Stunden in der Festanstellung reduziert, um sich die restlichen Dienste aussuchen zu können. Das ist attraktiv.

Das heißt, Sie sehen vor ­allem Vorteile in der Leiharbeit?

Der Markt im Gesundheitswesen hat sich ein Stück gedreht. Leiharbeit wurde geschaffen, damit in erster Linie die Arbeitgeber flexiblere Möglichkeiten haben, Arbeitnehmer:innen abzustoßen, wenn sie nicht mehr gebraucht werden. Aufgrund des Mangels an Fachpersonal hat sich ein Arbeitsmarkt etabliert, der sich an der Verfügbarkeit von Fachkräften ausrichtet. Leiharbeitsunternehmen verdienen richtig gut. Sie können fast jeden Preis durchsetzen. Davon profitieren auch die Leute, die dort angestellt sind.

Welche Gesundheitsberufe vermitteln die Leiharbeitsfirmen denn?

Es gibt Leiharbeitsfirmen, die haben sich aufs Pflegepersonal spezialisiert. Es gibt auch ­Leiharbeitsunternehmen, die Laborpersonal, Ra­dio­lo­gie­as­sis­tent:innen, The­ra­peut:innen und Phy­sio­the­ra­peu­t:in­nen anstellen.

Und wie viele Menschen arbeiten als Leiharbeiter:innen im Gesundheitsbereich?

Ich habe keine genauen Zahlen. Mir scheint der Anteil derjenigen, die einen festen Arbeitsplatz in Teilzeit haben und zusätzlich bei einer Lohnarbeitsfirma arbeiten, in den letzten Jahren kontinuierlich gewachsen zu sein.

Wenn es Ihrer Meinung so viele Vorteile gibt, in einer Leiharbeitsfirma zu arbeiten – warum gibt es dann noch Festangestellte?

Im Gesundheitswesen gibt es eine starke Teamorientierung, die man aufrechterhalten möchte. Man verortet sich in seinem Team, auf seiner Station. Den Weg in die Leiharbeit gehen die Menschen häufig nur deshalb, weil sie die Belastung im Dreischichtbetrieb nicht aushalten.

Was bekommen Sie in dieser Hinsicht mit?

Europas größte Uniklinik, die Charité, wird ab Montag für zunächst zwei Wochen den Betrieb auf ein reines Notfallprogramm zurückfahren. Planbare Eingriffe werden über Weihnachten und den Jahreswechsel nicht gemacht, wie die Klinik in der vergangenen Woche ankündigte. Notfälle werden demnach aber weiter behandelt. Auch Tumoroperationen werden weiterhin vorgenommen. Auch der Betrieb in den Rettungsstellen gehe weiter. Der Schritt soll es ermöglichen, Personal zusammenziehen, um weitere Covid-19-Intensivkapazitäten aufzubauen.

Mit einer weiteren Zunahme der Zahl dieser Patienten rechnet das Krankenhaus. „Wir befinden uns nach wie vor in einer ungewöhnlich schweren Krise, wie wir sie noch nicht erlebt haben“, hatte Vorstand Ulrich Frei erklärt. Erwartet wurden noch „schwere Wochen“. Wie Charité-Mediziner Kai-Uwe Eckardt im ZDF kürzlich sagte, gelten nun zwei Wochen lang an der Klinik Regeln wie sonst nur an Feiertagen.

Die Charité ist in Berlin die erste Adresse für die Behandlung von Covid-19-Patienten mit schweren Krankheitsverläufen, versorgt Infizierte aber auch auf normalen Stationen. (dpa, taz)

Insbesondere auf den Intensivstationen ist es gerade die Hölle. Egal, ob ich nach Berlin oder nach Brandenburg gucke: Die Leute gehen auf dem Zahnfleisch. Patient:innen sterben in einem deutlich höheren Ausmaß als noch in der ersten Welle. Das macht natürlich auch psychisch was mit den Leuten. Corona-Infektionen nehmen auch beim Personal zu. Vermehrt sterben Kolleg:innen, höre ich aus den Betrieben, und die eigene Angst nimmt zu. Es scheint schlimm zu sein.

Was belastet das Krankenhauspersonal besonders?

Dass nun in Krankenhäusern triagiert werden muss: Welche Person kriegt zuerst welche Hilfe? Das ist dann die Stufe, wo die Leute echt an die Belastungsgrenzen kommen. Und das ist richtig schlimm.

Können Sie Leiharbeitende verstehen, die in letzter Minute abspringen, weil sie eine solche Situation nicht erleben möchten?

Ich kann das individuell nachvollziehen, aber in der Konsequenz finde ich das natürlich nicht gut. Wenn eine Kraft vor Ort gebraucht wird, muss jemand hingeschickt werden. Die Leiharbeitsunternehmen machen sich an vielen Stellen einen schlanken Fuß: „Die Person hat kurzfristig abgesagt, Pech gehabt“, heißt es. Das geht nicht, finde ich. Auch die Leiharbeitsfirmen haben hier eine Verantwortung.

Diese sehen Sie vernachlässigt?

Ja. Mir haben Kolleg:innen erzählt, dass Leiharbeitsfirmen wochenlang ihre eigenen Leute nicht getestet haben. Das musste das Einsatzkrankenhaus übernehmen. Die beiden öffentlichen Schwerpunktversorger, die die Hauptlast momentan bei der Covid-Versorgung in Berlin tragen, Charité und Vivantes, sind auf den Intensivstationen und auch bei dem gemeinsamen Laborunternehmen voll an ihre Grenzen gekommen. Wenn es die Anforderung gibt, dass die Leiharbeitnehmer:innen getestet sind, dann müssen das meines Erachtens auch die Leiharbeitsfirmen übernehmen und gewährleisten. Ich bin der Auffassung, dass das Land Berlin hier klare Regeln schaffen müsste.

Gibt es dazu eine offizielle Forderung von Verdi?

Nein, bisher nicht. Wir hatten im Frühjahr einen Corona-Krankenhaus-Pakt geplant. Dazu gab auch mehrere Gespräche mit der Gesundheitssenatorin, ein gemeinsames Papier war fast fertig. Das Papier ist leider nicht mehr zustande gekommen, weil uns alle die zweite Welle voll erwischt hat. Der Umgang mit Leiharbeit war dabei allerdings kein Thema.

Warum nicht?

Das haben die Kolleg:innen zu diesem Zeitpunkt nicht als ein zentrales Problem gesehen. Wichtiger waren andere Fragen: Gibt es während der Coronapandemie einen Belastungsausgleich? Gibt es genug Schutzmaterial und Masken? Da waren erst mal andere Themen auf der Tagesordnung. Ich glaube, momentan ist es so, dass die Kolleg:innen alle die zweite und vielleicht noch dritte Welle gut überstehen wollen. Im Januar gucken wir uns das noch mal an.

Meike Jägerist Landesfachbereichsleiterin Gesundheit und Soziales bei der Gewerkschaft verdi.

Wie sollen die Patient:innen zurzeit versorgt werden, wenn die Leiharbeiter:innen nicht auf die Arbeit zur Intensivstation kommen?

Ich sag mal: An welcher Ecke zieht man, wenn die Bettdecke insgesamt zu kurz ist? Die prekäre Personalsituation ist seit vielen Jahren Hauptthema bei Verdi. Es gibt einfach zu wenig Pflegepersonal – da ist die Politik gefordert, die Rahmenbedingungen so zu verbessern, dass wieder Pflegekräfte zurück in den Beruf kommen, nicht aussteigen und sich mehr junge Menschen dafür ausbilden lassen.

Wissen Sie denn, ob Leih­arbeiter:innen besser bezahlt werden?

Ich habe keine Zahlen, aber es scheint schon sehr attraktiv zu sein.

Leidet die Arbeitskultur auf den Stationen darunter?

Nehmen Sie ein Stammteam, das unterbesetzt ist, in dem die Leute sowieso schon angestrengt sind. Das kann man sich ja ein bisschen vorstellen. Häufige Wechsel werden dann als eine zusätzliche Belastung wahrgenommen. Wenn die Leih­arbeitenden nachfragen müssen: „Wo finde ich was? Wie dokumentiere ich das?“, ist das natürlich ein Störfaktor im laufenden Betrieb. Mit Corona haben wir nun noch mal eine hyperverschärfte Situation.