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„Ich laufe Marathon, um anzugeben“

Von Karin Schilff lässt sich wahrlich etwas lernen über innere Jugend. Die 82-Jährige ist viel mehr als nur Berlins älteste Marathonläuferin

Alle Strecken mit dem Fahrrad, immer die Treppe und jeden Morgen Kniebeuge: „Du musst dich bewegen“, sagt Karin Schilff Foto: Doro Zinn

Protokoll Manuela Heim

1938 wird Karin Schilff geboren. Aus dem kleinen Dorf hinter Posen fliehen Großeltern, Mutter und drei Kinder im Winter 1944 in einem Flüchtlingstreck, die Familie wird um ein Haar erschossen. Ein Zimmer in Prenzlauer Berg wird zum Gefängnis der drei kleinen Schwestern, die Mutter schließt sie stundenlang ohne Essen und Trinken dort ein. Als der Vater aus der Kriegsgefangenschaft kommt, verschwindet die Mutter. Der Vater ist so gewalttätig, mit Siebenstriemer und Gürtel, dass die Kinder bei der Polizei bitten, ins Heim zu kommen. Ohne Erfolg. Einen Schulabschluss wird Schilff nie machen, mit 16 beginnt für sie die jahrzehntelange Akkordarbeit in der Fabrik. Mit 17 begegnet Schilff dem Mann, der sie aus dem Haus des Vaters holt. 53 Jahre leben sie zusammen, bekommen einen Sohn, ziehen an den Rand des Grunewalds. Sie reisen in alle Welt, Indien, Südafrika, Brasilien, Ägypten. Gemeinsam trainieren sie für den Berliner Marathon, sind im Wanderverein. Vor 13 Jahren stirbt der Ehemann. Karin Schilff wollte in diesem Jahr eigentlich ihren 23. Berlin-Marathon laufen.

Heute bin ich losgelaufen, mit H. in den Grunewald, bei trübem Wetter, was soll’s. Und dann brechen da die Wolken auf, die Sonne kommt raus, und ich denke, was bin ich glücklich. Aber dann haben wir uns doch tatsächlich verlaufen im Grunewald, so was! Zurück beim Rad bin ich mit 100 Sachen hierher, sonst wäre ich doch zu spät gekommen, halb im Stehen bin ich gefahren. Und da freue ich mich. Mensch, was du noch machst mit deinen 82 Jahren! Dann bin ich auch ein bisschen stolz.

Laufen, um fit zu bleiben, den Gedanken habe ich bis heute nicht. Ich laufe Marathon, um anzugeben. Ja wirklich. Aber jetzt kommt es: Wenn die anderen immer sagen, wo sie überall studiert und gearbeitet haben, erste Tür vorm Chef. Haben ja auch alle zwei Autos. Und dann fragen die mich: „Wo haben Sie denn mal gearbeitet, was haben Sie denn gelernt?“

„Ich bin nur eine Fabrikarbeiterin, immer im Akkord“, sage ich dann. „Aber sind Sie schon mal Marathon gelaufen?“ Das ist das Einzige, wo ich denke, ich kann mich hervortun. So schlimm das klingt, ich habe doch sonst nichts vorzuweisen. Alles, was ich gelernt habe … das Leben ist meine Schule. Mit offenen Augen, mit offenen Ohren und immer nachdenken, bevor ich etwas sage.

Ich nehme alles wahr, und ich kriege auch alles mit. Weil ich selber mal eine Gebeutelte war, haben sich alle meine Sinne erhalten. Diese kindliche Neugier, weil ich nicht erwachsen werden konnte. Und mich interessiert alles: Geschichte, Bilder, alte Bauwerke. Das ist auch meine Erklärung, warum ich trotz allem, trotz des Verlusts meines Manns, trotz dessen, dass mich niemand so richtig wahrnehmen will, so einen Spaß habe am Leben.

Ich bin ja ein Außenseiter geworden, weil ich kein Internet habe. Im Fernsehen sagen die dann: „Wenn sie mehr wissen wollen, dann schauen sie unter www …“ Ich könnte mir das kaufen, will ich aber nicht. Das ist doch einer der Gründe, warum mein Umfeld behindert wird. Die sitzen nur noch vor ihrem Smartphone und bewegen sich nicht mehr. Ich will nicht überall Fotos machen, und ich will auch nicht überall welche kriegen. Wenn ich das sehe: Auch im Wald, da laufen die schon so rum, mit dem Bildschirm vorm Gesicht. Ich höre beim Laufen das Vogelzwitschern. Ich will doch alles wahrnehmen.

Wenn ich was wissen will, dann google ich das hier in meinem Brockhaus. Hat mein Mann schon immer gesagt: „Du musst nachschlagen, Puppe!“ Der Brockhaus ist von 1957, das ist das Jahr, in dem wir geheiratet haben. Die da drinstehen, die leben ja alle nicht mehr.

Ach, wenn ich daran zurückdenke, wie ich meinen Mann kennengelernt habe, manchmal wenn ich allein im Schlafzimmer liege, da ist er ja auch verstorben. Dann will ich das doch alles noch mal fühlen. Das war so schön, bleibt schön. Ewig schön.

Wir hatten früher immer volles Haus, unsere Tür war immer offen. Jemanden einladen, das mussten wir doch gar nicht. Wenn es geklingelt hat, schnell alles, was rumlag ins Schlafzimmer, das räumen wir später auf. Hauptsache, rein die Leute, und schon saßen wir da zu acht in der kleinen Wohnung. Ich fand das gemütlich.

Heute klingelt keiner mehr spontan, das ist vorbei. Der eine sagt, ach, da muss ich so weit fahren. Der andere macht Punkt 12 Mittag. Die andere kommt nicht mehr, weil ich Witwe bin und sie noch einen Mann hat, was soll der denn dann machen …

Ich hätte gern jemanden, der mit mir ins Museum geht. Ich kenne viele Menschen, aber kaum jemanden, der meine Interessen teilt. Ich mit meiner romantischen Art. Wenn ich mir Bilder anschaue, dann sehe ich mich darin. Aber alleine, nee. Ich muss doch sagen können: Guck mal, findste dit nich schön?!

Einsamkeit spielt eine Rolle, ja. Ab 16 Uhr ist es dunkel, dann ist die Nacht so lang, ich geh nicht vor eins schlafen. Es gibt da diesen Spruch: „Das Bewusstsein ist nur ein Tropfen, aber das Unterbewusstsein ist der Bodensee.“ Alles, was man mit sich rumschleppt, das ganze Leben, alles, was ich verdrängt habe – ich bin doch eine Verdrängungskünstlerin, das war mein Überleben.

Aber manchmal kommt ein Bläschen hoch, dann geh ich raus, dann sitze ich hier nicht alleine rum. Mit dem Fahrrad über die Brücke, nach Halensee. Da ist Licht, und da sind Leute. Und dann fühle ich mich wohl. Dann kaufe ich da auch was, Kartoffeln oder Brot oder was, nur noch Gesundes. Und dann sehe ich, wie sich da eine ältere Dame am Regal reckt, und ich sage: „Kommen Sie, ich hole Ihnen das runter.“ Und dann schaut die mich an und sagt: „Sie? Sie können doch selber nicht mehr.“ Doch, ich kann. Ich vergesse dann, dass ich alt bin.

Wenn ich dieses Jahr noch mal den Marathon hätte laufen können … Ich hätte auf Teufel komm raus trainiert, dass ich das schaffe. Nach mir sind ja immer noch 2.000 Läufer reingekommen, ich war nicht die Letzte mit dem Besenwagen, obwohl ich so alt bin. Nächstes Jahr? Ich glaub nicht, dass das noch mal was wird. Irgendwann ist vielleicht doch Schluss.

Ich laufe immer in Weiß, von oben bis unten. Bin ich die Einzige. Auf dem Rücken steht dann: „Karin läuft jetzt den soundsovielten Marathon.“ Ganz groß, ab dem 10. Berliner Marathon steht das da. Und wenn mich welche von hinten überholen, da sehen die doch nicht, dass ich über 80 bin: Schlank, ganz in Weiß, blonder Zopf, 22. Marathon. Und dann, wenn die vorbeikommen und mich von vorn sehen – diese Überraschung! Ich muss jedes Mal so lachen. Soll man ja eigentlich nicht, weil man dann aus dem Tritt kommt.

Der Gedanke, dass ich gebrechlich werden könnte, der hat bei mir noch keinen Raum genommen. Gebrechlich, was heißt das überhaupt? Die Leute werden krank, brechen sich ein Bein oder was, und dann bewegen sie sich nicht mehr. Dann nehmen sie zu und dann bewegen sie sich noch weniger. Dann fahren sie nur noch Rolltreppe und überall mit dem Auto hin. Du musst dich aber bewegen, bewegen, bewegen.

Das war auch das Erste, was ich in der Altenpflege gelernt habe. Nach der Wende war ich arbeitslos, die Fabrik ist ja weggezogen. Da habe ich in der Altenpflege angefangen, ambulant bei den Leuten zu Hause. Haben alle gesagt: „Was, mit den alten Leuten? Da wirste doch selber alt.“ Stimmt ja gar nicht, da wirst du jung dabei. Da kommst du rein, und die sagen: „Mädchen, komm mal her, du Jungspund.“ Ich war da über 50, aber bei denen war ich unglaublich jung.

Und ich habe den Leuten so gern zugehört. Irgendwann hieß es dann von der Einsatzleitung: „Karin, die fragen immer alle nur noch nach ‚Zöpfchen‘“ – so nannten sie mich wegen dem langen Zopf. „Was machst du da eigentlich mit den alten Leuten“, hat die Einsatzleitung gefragt. „Ich mache doch nichts, ich höre einfach nur zu“, habe ich gesagt. Die hatten immer ganz rote Bäckchen, wenn ich gegangen bin.

Und ich bin so froh, dass ich das gemacht habe, weil jetzt weiß ich, wie wichtig das ist. Die Geschichten, die will doch sonst keiner hören. Und wenn ich jetzt mal erzählen kann, dann bin ich auch froh. Wenn unser Gespräch heute zu Ende ist, bin ich erschöpft. Aber angenehm erschöpft. Mit roten Bäckchen.

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