: Südwest-Grüne werden wieder grüner
Die Grünen in Baden-Württemberg küren Kretschmann zum Spitzenkandidaten. Von der Klimabewegung unter Druck setzen sie sich vorsichtig vom Koalitionspartner CDU ab
Aus Karlsruhe Benno Stieber
91,47 Prozent, das ist das wohl letzte Ergebnis, das Winfried Kretschmann bei einer Wahl zum Spitzenkandidaten auf einem Landesparteitag bekommt. Er will noch ein drittes und letztes Mal als Ministerpräsident antreten. Und die Grünen im Südwesten wissen, was sie an dem grünen Konservativen haben. Nur er kann einen weiteren Wahlerfolg garantieren. Kretschmann dankt spitzbübisch für das Ergebnis, auch für die Abgabe der wenigen Gegenstimmen. Das zeige, dass die Wahl echt ist, sagt er.
Bei der letzten Landtagswahl 2016 sah es schon einmal so aus, als würde der erste grüne Ministerpräsident eine Episode in dem ansonsten fast immer schwarz regierten Baden-Württemberg bleiben. Doch wenn auch von beiden Seiten ungewollt, war es die AfD, die mit ihrem Einzug ins Parlament der CDU entscheidende Sitze wegnahm und den Grünen die Mehrheit sicherte. Mit gravierenden Folgen für die politische Kultur im Land. Diesmal könnte eine Kleinstpartei vom Fleisch der Grünen dafür sorgen, dass es gerade nicht mehr reicht für einen grünen Ministerpräsidenten. Die Klimaliste ist noch damit beschäftigt, in jedem Wahlkreis überhaupt genügend Unterstützer zu finden. Doch Kretschmann hat sie schon vor Wochen zum politischen Gegner geadelt. Sie könnten jetzt dafür sorgen, dass sich die Kretschmann-Grünen in diesem Wahlkampf nicht bis zur Verwechselbarkeit mit der CDU angleichen.
Schon beim letzten Parteitag in Sindelfingen hatte Kretschmann gesagt, dass die Fridays-for-Future-Bewegung ihm zu einem „radikaleren Sound“ verholfen hatte. Natürlich appelliert Kretschmann trotzdem auf dem Parteitag in Reutlingen gewohnt präsidial an den gesellschaftlichen Zusammenhalt. Aber er watscht auch gleich die Coronademonstranten ab, „die wohl eher verquer als quer denken“. Er lobt pflichtgemäß den schwäbischen Tüftlergeist, der die Grundlage für den baden-württembergischen Wohlstand ist. Aber er sagt auch, dass die tiefgreifenden Veränderungen gestaltet werden müssen. Etwa die Dekarbonisierung von Industrie und Individualverkehr. Dazu gehöre auch ein Kohleausstieg schon bis 2030.
Es geht den Landes-Grünen nach zehn Jahren als Regierungspartei an diesem Wochenende darum, ein Bild der Ge- und Entschlossenheit abzugeben.
Zuletzt hatte das gelitten. Da ist koalitionärer Kleinkampf mit Kultusministerin Susanne Eisenmann über die Frage, ob und wann die Schulen vor den Weihnachtsferien wegen Corona geschlossen werden. Eine Debatte, die weder Kretschmanns Herausforderin noch den Grünen genutzt hat. Zumal er sich eigentlich mit der CDU-Spitzenkandidatin darauf verständigt hatte, keinen Coronawahlkampf zu führen. Und da muss ausgerechnet der grüne Umweltminister Franz Untersteller mit über 170 in der 120er-Zone gestoppt werden. Vor allem aber haben die Grünen die Oberbürgermeisterwahl in Stuttgart leichtfertig aus der Hand gegeben. „Ein Schuss vor den Bug“ sei das gewesen, sagt Kretschmanns Regierungssprecher und Langzeitstratege Rudi Hoogvliet in der Stuttgarter Zeitung. Er warnt: „Wir werden die Landtagswahl nicht im Schlafwagen gewinnen“.
Deshalb würzt die grüne Landesvorsitzende Sandra Detzer ihre Begrüßungsworte auf dem Parteitag mit viel Pathos und einem bemerkenswert anhaltenden Lächeln. Aber sie setzt auch den ersten Akzent gegen die CDU als Koalitionspartner, der ein Klotz am Bein der Grünen gewesen sei. Die CDU habe eine Reform des Wahlrechts und an vielen Stellen mehr Klimaschutz verhindert. Das ist schon richtig, lag aber auch daran, dass der Ministerpräsident in den letzten fünf Jahren lieber das eine oder andere grüne Ziel hintanstellte – um des lieben Koalitionsfriedens willen.
Und so weigert sich Kretschmann im heraufziehenden Wahlkampf eine Koalitionsaussage zu treffen. Dass der Parteivorstand eine rot-rot-grüne Regierung ins Spiel gebracht hat, dürfte ihm nicht gefallen, zumal die Linkspartei wenig Aussicht auf einen Einzug in den Landtag hat und die Landes-SPD wegen chronischer Schwäche als Partner allein ausfallen dürfte.
Auf dem Landesparteitag, der wegen der Pandemie wie überall nur digital stattfindet, präsentieren sich die Grünen deshalb grüner, als sie sich das im letzten Wahlkampf getraut haben. Ein erster Wahlwerbespot listet die umweltpolitischen Erfolge der beiden grünen Regierungsperioden vom Nationalpark bis zum Artenschutzgesetz auf. Robert Habeck sagt in einer Videobotschaft, Kretschmanns Regierungszeit sei eine „Grünpause“ für die Bundespartei. Schließlich wird von der ersten Landtagswahl im nächsten Jahres ein wichtiges Signal für die Grünen im Bund ausgehen. Kretschmann, von Habecks Lob und dem Wahlergebnis sichtlich geschmeichelt, sagt: „Ich werde alles geben.“
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