Wildwest beim E-Commerce

Die virtuelle Musikplattform Bandcamp genießt einen hervorragenden Ruf als ethisch korrekter Gegenspieler zu den knausrigen Streaming-Firmen. Was ist dran an dem Hype?

Das Elektronikduo Vimes Foto: Frederike Wetzels

Von Lars Fleischmann

Es war in der ersten Phase der Coro­na­­pandemie, Mitte März, als eines der größten Video-Stream-Portale, Netflix, für 30 Tage seine Datenrate reduzieren musste, da lockdownbedingt übermäßig viele UserInnen online waren. Die Mengen an Streaminganfragen waren nicht mehr in gewohnter Bildqualität zu bewältigen. Von Musikportalen wie Spotify hatte man indes wegen zu starker Auslastung nichts gehört. Während das Thema Streaming auch in der Pandemie weltweiter Hype ist, hat im Musikbiz vor allen Dingen ein US-Unternehmen besondere Aufmerksamkeit erregt: Bandcamp versteht sich gerade nicht.

Grundsätzlich ist das Geschäftsmodell des 2007 von dem ehemaligen Yahoo-Mitarbeiter Ethan Diamond gegründeten Unternehmens aus dem kalifornischen Oakland recht simpel: Musiker:Innen und kleine Labels laden ihre Musik hoch, diese kann meist drei Mal umsonst gestreamt werden, bis Bandcamp dazu auffordert das Album, die EP oder den Einzeltrack käuflich zu erwerben. Bevorzugter Distributionsweg ist die Digital-Copy als MP3, häufig lassen sich auch die passenden Kassetten, Vinyls oder CDs im Webshop erwerben.

Dies ist auch der große Unterschied zu Streamingdiensten wie Spotify und Tidal: Strea­ming ist hier bloß Verkaufsargument, letztlich Werbung, man geriert sich als alternativer Musikmarkt, der vornehmlich unabhängige Kulturschaffende anspricht. Große Labels sucht man bei Bandcamp vergebens. So gibt man sich auch betont „barrierefrei“: Das Content-Management-System ist simpel, selbst für Neulinge ist der Weg zur ersten eigenen Veröffentlichung kurz. Wer dazu neben Musik auf Daten und Tonträgern Merch wie T-Shirts verkaufen möchte, erkennt rasch, dass es dafür keine erweiterten betriebswirtschaftlichen Kenntnisse braucht. Für den Service als Wirt behält Bandcamp bis zu 15 Prozent der Einnahmen ein.

Der Hype um die Plattform ergibt sich derweil aus einer medial weithin beachteten Aktion: dem Bandcamp Friday. Seit März schenkt die Plattform stets am ersten Freitag im Monat ihren UserInnen die Provision. Das führte zu Lobeshymnen allerorten auf einen Player des E-Commerce; ein seltenes Phänomen in der Kulturwelt. Doch Bandcamp genießt einen hervorragenden, auch ethisch korrekten Ruf. Seit 2010 die US-Künstlerin Amanda Palmer von den Vorzügen der Selbstvermarktung schwärmte und ihre Musik bei Bandcamp veröffentlichte; seit das legendäre US-Punk-Label Dischord 2017 seinen kompletten Backkatalog online stellte; seit Bandcamp Gelder für Hilfsorganisationen gesammelt hat, gilt das Unternehmen als politisch korrekt, musiker- und nischenfreundlich. Als einzig wahre Alternative zu den offensichtlichen Ausbeutungsverhältnissen bei Streamingdiensten, die trotz millionerfacher Streams nur Peanuts an Künstler:Innen abführen.

Kassensturz und Almosen

Künstler:Innen, Bands und Labels werden zu sinnloser Hyperaktivität gezwungen

Im Juli machte man Kassensturz: 20 Millionen US-Dollar sollen an bloß vier solcher Spendentage geflossen sein. Was auf den ersten Blick wie eine Erfolgsgeschichte in mauen Zeiten daherkommt, ist bei mehr als 4.000 beteiligten Labels und etwa dem 30-Fachen an „Content-generierenden“ Usern nichts weiter als Almosen im niedrigen zweistelligen Euro-Bereich. So ist auch nur folgerichtig, wie sich einige Musikschaffende bei Instagram bitter beklagten, dass bei ihnen, trotz hoher Gesamtumsätze – die auch als solche von der Plattform selbst vermarktet werden –, nichts ankomme. Auch nach mehrmaliger Anfrage, wie sich die Verkaufszahlen seit Juni entwickelt haben, ob man auch bei Bandcamp eine gewisse „Coronamüdigkeit“ erkennen würde, ob man das Gefühl habe, dass sich viele KünstlerInnen um vergleichsweise wenig Geld streiten würden, kam keine Antwort von dem bekannt-schweigsamen US-Unternehmen. Transparenz? Fehlanzeige!

KünstlerInnen, die um Aufmerksamkeit streiten, die zur Hyperaktivität und stetem Output gezwungen werden, in der Hoffnung zu den wenigen Gewinnern zu gehören, – bei Bandcamp sind sie schon lange kein Einzelphänomen mehr. Im Gerangel um die zusätzlichen Einnahmen am Bandcamp-Freitag setzen mittlerweile einige Labels auf wöchentlichen, teilweise sogar täglichen neuen Content. Das Geschäftsmodell Bandcamp zeigt derweil nicht bloß diesen einen Fallstrick. Der Journalist Kristoffer Cornils wies im Onlinemagazin djlab darauf hin, dass Bandcamp in Deutschland keinerlei Gelder an die Verwertungsgesellschaften (Gema und GVL) abführe, Plays auf der Seite sowieso nicht abgerechnet würden, da man sich eben als Verkaufsplattform verstehe. Auch hierauf gab es keine Antwort aus Kalifornien. Dies ist nur ein weiterer Pferdefuß in der Welt der unabhängigen Internetökonomie, die häufig mit messianischen Versprechungen lockt und den Musikmarkt revolutionieren möchte, aber gleichzeitig alte Errungenschaften aushebelt. Ein anderes Problem bleibt außerdem die kontinuierliche Vorleistung, in die MusikerInnen treten müssen. Mal ab von dem künstlerischen Vorschuss, der in Veröffentlichungen aller Art steckt, muss man im Bereich Merch- und Tonträger stets Cash für T-Shirts und Vinyl-Pressungen aufwenden. Wer kein Geld hat, der kann auch keins investieren. Diese Marktlücke erkannte 2016 das Londoner Textilunternehmen Everpress. Sein Geschäftsmodell richtet sich an Designer und Bands gleichermaßen: Man lädt über das sehr eingängige System ein Design für eine ganze Reihe an „garments“ – vom klassischen T-Shirt über den Hoodie bis zu Kappe – hoch und erstellt dann eine Kampagne. Das erinnert nicht zu Unrecht an Crowdfunding-Unternehmen wie Kickstarter. Doch gibt es hier einen Clou. Der Produktionsprozess läuft autonom und autark. Wer in einem Zeitraum von 5 bis 30 Tagen Fans und Supporter davon überzeugt, insgesamt fünf Shirts (oder mehr) zu kaufen, dessen Produkt wird in London gefertigt, gedruckt und dann zeitnah ausgeliefert. Einen kleinen Teil der Einnahmen bekommt man ausgezahlt, der Rest bleibt beim Unternehmen; die Preise sind, verglichen mit klassischem Band-Merch, im oberen Mittelfeld angesiedelt. Die Vorteile für MusikerInnen sind offensichtlich.

In den Augen von Julian Stetter, Mitglied des Elektronik-Duos Vimes, ist Everpress eine sinnvolle Lösung, „um nicht infolge von kostengünstigeren hohen Stückzahlen tonnenweise Merch zu produzieren, der leicht zum Ladenhüter wird“. Sein eigener Keller sei voll davon: „Das ist nicht nur ökologisch fragwürdig, auch die Auslagen dafür werden mit Sicherheit nicht mehr refinanziert werden.“ All dies fällt beim britischen Portal weg; hier wird just in time und auf die Auswahl der KäuferInnen hin gefertigt. Bands und KünstlerInnen müssen gar nicht mehr als VerkäuferInnen auftreten. Für die KünstlerInnen bleibt dennoch was hängen – bei 19 Euro Verkaufspreis sind es knapp 4,50 Euro, die von Everpress abgeführt werden. Während beim sonstigen Merch die Marge wohl höher ausfallen würde, ist man hier gänzlich befreit vom Risiko.

Tatsächlich sind aber sowohl Bandcamp als auch Everpress Grenzen gesteckt. So beliebt beide Plattformen bei den Prosumern – also den konsumierenden Produzenten – sind, so gering scheint ihr Einfluss außerhalb der eingeweihten Kreise bisher. Bei Everpress geht man davon aus, dass 40 Prozent der Kampagnen ohne Erfolg bleiben. Zur begrenzten Klientel gesellt sich in Zeiten einer globalen und nun schon Monate andauernden Pandemie außerdem noch der chronische Geldmangel, der sich gerade in jenen Zirkeln einstellt, die sonst als kauffreudigste User bei Bandcamp gelten: DJs. Ohne festes Einkommen, ohne Gigs überlegt man sich zweimal, ob man zugreift beim nächsten Digital-Release oder beim neuesten Fan-Merch des Lieblings-Kollektivs.

Es geht doch nichts über persönliche Beratung: Plattenladen Groove Attack in Köln Foto: Jock Fistick/laif

Parallel dazu entwickelt sich, wie so häufig im Wildwest­territorium E-Commerce, ein Verdrängungswettbewerb, der vornehmlich den stationären Handel trifft. Ehedem etablierte Mail-Order-Dienste, der kleine und mittlere Plattenhandel, unabhängige Merch-ProduzentInnen schauen in die Röhre.

Wie zwiespältig die Angelegenheit ist, zeigt sich deutlich am Beispiel des Musikers Tim Puncell alias Twit One, der in Köln den Plattenladen Groove Attack betreibt. „Für mich als Künstler ist Bandcamp eine gute Sache, da ich damit spontan, ohne Label oder dazwischengeschalteten Digitalvertrieb meine Musik hochladen kann“, betont er die Vorzüge des Direkt­handels mit Bandcamp. „Als Inhaber eines Plattenladens sieht es schon wieder anders aus, wenn mich dort Kund*innen nach Musik fragen, die es zwar bei Bandcamp gibt, die aber erst drei Monate später von den physikalischen Vertrieben in Umlauf gebracht wird.“ Er müsse darauf setzen, dass die persönliche Atmosphäre im Plattenladen, inklusive Beratung statt bloßer Empfehlungsalgorithmen, immer noch KundInnen anziehe.

Wenn man Schätzungen von Handelsexperten glauben darf, so könnten in den nächsten fünf Jahren bis zu 40 Prozent der Plattenläden verdrängt werden. Die Schätzungen stammen wohlgemerkt aus einer Zeit vor Corona. Die Pandemie wird dieser Entwicklung noch weiter Vorschub leisten. So ergibt sich für viele Kulturschaffende ein kaum aufzulösender Zwiespalt: Zwar sind gerade kleinere Labels und MusikerInnen lokal meist gut vernetzt, hegen große Sympathien gegenüber Plattenläden um die Ecke. Die prekäre Situation zwingt sie derweil stärker auf den Internethandel zu setzen, selbst wenn die dort ansässigen Unternehmen nicht ganz so fair und cool agieren, wie es zuerst scheint.