Aus der Konserve

Die ARD-Sender haben ihre Archive geöffnet und zeigen Fernsehbeiträge aus den Jahren 1958 bis 1966. Das ist nicht nur für Nostalgiker:innen interessant. Eine Auswahl

Alter Kamera Verstärkerraum beim NDR in Hamburg-Lokstedt 1959 Foto: Foto:NDR

Warum das Ganze?

Zum Unesco-Welttag des „Audiovisuellen Erbes“ am 27. Oktober hatte der RBB die Aktion angeregt.

Warum Beiträge von vor 1966?Beiträge nach 1966 fallen unter das damals neu beschlossene Urheberrecht und müssen einzeln geprüft werden.

Und wo geh t ’s lang?

Hier: ardmediathek.de/ard/retro

Von Leonard Maximilian Schulz

Kreischen für Elvis

Screenshots: ARD

Der Empfang war überwältigend: 3.000 vorrangig weibliche Jugendliche haben sich am Bremerhavener Hafen versammelt, um Elvis Presley zu bejubeln. Er ist gekommen, um Teile seines Militärdienstes bei einem US Army-Stützpunkt in Hessen zu absolvieren. Die Debatte um seinen Einzug in die Army spaltete zuvor die amerikanische Öffentlichkeit, doch Elvis entschied sich für den Dienst und lehnte es sogar ab, als Special G.I. behandelt zu werden. Der „King“ in Europa! Das gab es vorher noch nie. Lässig schlendert Presley die Gangway des Kriegsschiffes hinunter, den Seesack über der Schulter. Für die „Jünger des Rock ’n’ Roll“ ist es eine Offenbarung: Mit tragbaren Schallplattenspielern wird Elvis tanzend begrüßt, die Polizei muss die Jugendlichen immer wieder zurückdrängen. Das Kamerateam kämpft sich durch die Massen auf dem Pier und fängt die Euphorie der „Kids“ ein, wie Elvis sie später bezeichnen wird. Die rauschenden Ton- und Kameraaufnahmen erinnern daran, auf welchem Stand die Technik war und es kommt einem fast verwunderlich vor, dass die Popkultur schon damals global vernetzt war. Elvis Presley kommt in Bremerhaven an (Radio Bremen Fernsehen 1958)

Nachkriegsrhetorik

„Die Spalter Deutschlands und Bedrücker Ost-Berlins“ – scharfe Worte verwendet Willy Brandt in seiner Erklärung am Tag des Mauerbaus. Auch die praktischen Auswirkungen des Mauerbaus spielen eine Rolle: Arbeitsplätze und Verkehr müssen geregelt werden. Er spricht auch für die Ost-Berliner, von denen viele zuvor in den Westen geflüchtet waren. Walter Ulbricht hatte schon lange bei der Moskauer Führung um die Schließung der Sowjet-Zone geworben. In seiner Rede bittet Willy Brandt die Alliierten, Einspruch zu erheben, doch die unternahmen nichts – aus Angst vor Eskalation. Brandts Rede ist ein Paradebeispiel politischer Krisenkommunikation. Sie ist im professionellen Politiker-Duktus gehalten, doch man spürt, wie betroffen Brandt von der Abriegelung der Ostzone ist. Es wirkt fast, als ob er die historische Dimension seiner Worte spürt. Auch wie der Berliner Bürgermeister sich sprachlich gegen das Ulbricht-Regime wehrt, ist bemerkenswert. So ist Ost-Berlin lediglich die angebliche Hauptstadt der DDR und die Mauer „die Sperrwand eines Konzentrationslagers“. Erklärung des Regierenden Bürgermeisters Willy Brandt (1961 RBB)

Eiserne Institution Ehe

Dieser Beitrag ist einer der wenigen aus den Archivöffnungen, der von einer Frau moderiert wird. Es geht um eine Schule in München, in der Frauen Haushaltsunterricht bekommen, die kurz vor ihrer Hochzeit stehen. Es gibt Säuglingsunterricht mit einer Versuchspuppe und Reparaturen an Haushaltsgeräten werden geübt. Im Zuge des Kochunterrichts wird erklärt, wie die Frauen „mit dem Wirtschaftsgeld durchkommen“, das ihnen von den Ehemännern zur Verfügung gestellt wird. Die Schülerinnen kommen aus dem gesamten deutschsprachigen Raum zu der Münchener Schule, teilweise werden sie von ihren zukünftigen Ehemännern geschickt. An einer Stelle fragt die Moderatorin eine Schülerin, ob sie die viele Hausarbeit nicht jetzt schon als undankbar empfindet, diese geht aber lieber nicht darauf ein. An der Schule wird die perfekte Hausfrau geschmiedet. Der Beitrag zeigt eindrücklich, wie wenig die Rolle der Frau in den 50er Jahren hinterfragt wurde. Aus heutiger Sicht wirkt das zunächst befremdlich. Aber seien wir mal ehrlich: Auch heute übernehmen weiblich gelesene Personen noch einen Großteil der Haus- & Care-Arbeit in Beziehungen.

Bräuteschule in München (1957, BR)

Die Mähnen der Vor-Hippies

Eine Momentaufnahme des bürgerlichen Selbstverständnisses am Berliner Breitscheidplatz: Sogenannte Gammler erregen die Gemüter der Passant:innen. Das Kamerateam der „Abendschau“ ist mitten drin im Tumult ­– und der Diskussion um die verloren geglaubten Jugendlichen. Wer Gammler sind und was sie außer der langen Haare ausmacht, erfährt man leider aus dem Beitrag nicht, aber ihnen wird vorgeworfen, ein Graffiti an die Gedächtniskirche gemalt zu haben – Gotteslästerung! „Solche wie sie“ habe man früher verbrannt, sagt ein aggressiver Mann. Andere Bürger nehmen weit weniger Anstoß an den herumlungernden Kids. Gammeln kommt übrigens aus dem Schwedischen und steht für „langsam tätig sein“. Die Bewegung war eine Reaktion auf den Konformitätsdruck im postfaschistischen Nachkriegsdeutschland. Gesellschaftspolitischen Protest drückten sie vor allem durch Konsumverweigerung aus. Später ist die Subkultur, deren Hochburg West-Berlin war, in die Hippiebewegung eingeflossen. Heute gibt es das Phänomen von rumhängenden Jugendlichen immer noch, es ist aber weniger politisch und wird „cornern“ genannt.

Berliner Gammler an der Gedächtniskirche (RBB 1965)

Dezenter Herrenduft

Mitte der sechziger Jahre scheint in Deutschland vor allem ein Thema zu polarisieren: Ist es angebracht, dass Männer Parfüm benutzen? Die Schönheitsindustrie hatte es sich neuerdings zur Aufgabe gemacht, Düfte an die männliche Bevölkerung zu verkaufen. Bei vielen kommt das gut an: Der neue „Typ Mann“ legt Wert auf Hygiene und rasiert sich lieber nass als trocken. Vorbild ist der allseits präsente weltmännisch-lässige James Bond. Aber nicht bei allen Männern kommt das gut an. Um nicht zu feminin zu wirken, werden „Aftershaves“ mit herben Noten angeboten. Die damalige Diskussion kreiste darum, ob Motorgeruch, Pferdegeruch und Kernseife nicht angebrachtere Düfte für Männer wären. Ein Interviewter entgegnet sogar flapsig, dass er lieber nach Pils riechen würde, als nach Parfüm. Zwei Frauen erzählen, dass sie es ganz nett finden, wenn Männer gut riechen. Die (männliche) Stimme aus dem Off macht Frauen verantwortlich für den männlichen Schönheitswahn. Sie würden Männern zu oft sagen, wie gut sie aussehen und duften.

Die neue Eitelkeit des Mannes: Eine Betrachtung (WDR, 1965)