Es beginnt mit einem Brief an eine Schauspielerin

Auf der Suche nach einer Ästhetik der Solidarität: „Everywoman“ von Milo Rau ist im Dialog mit einer kranken Frau entstanden. Damit eröffnet die Berliner Schaubühne ihre Spielzeit

Ursina Lardi in „Everywoman“ Foto: Armin Smailovic

Von Katrin Bettina Müller

Milo Rau, Autor, Regisseur und Intendant in Gent, schrieb für diese Zeitung zuletzt im März aus Brasilien. Er wollte dort eine „Antigone“ inszenieren, mit Indigenen und Aktivisten der Landlosenbewegung arbeiten. Mit dabei war die Schauspielerin Ursina Lardi, beide wollten in Brasilien auch für ihr Projekt „Everywoman“ recherchieren, eine Auseinandersetzung mit dem „Jedermann“ von Hugo von Hoffmannsthal. Der wird seit 100 Jahren bei den Salzburger Festspielen aufgeführt und Milo Rau hatte aus Salzburg den Auftrag für die Inszenierung 2020 bekommen.

Aber es kam anders. Corona durchkreuzte die Pläne. Lardi und Rau mussten nach Europa zurückreisen, Inszenierungen mit großen Menschengruppen sind zurzeit nicht möglich. Ein neues Konzept für „Everywoman“ entstand, als Ursina Lardi im Mai einen Brief erhielt.

In „Everywoman“, das nach der Uraufführung in Salzburg die Spielzeit in der Schaubühne in Berlin eröffnete, ist Ursina Lardi allein auf der Bühne. Eine zweite Frau, Helga Bedau, spielt über eine Videoleinwand mit. Sie hatte an die Schauspielerin geschrieben, wie sehr sie, als alle Theater wegen Corona geschlossen bleiben mussten, das Gemeinschaftserlebnis vermisse. Und das besonders in dem Bewusstsein, dass diese Monate vielleicht die letzten in ihrem Leben sind, weil sie an Bauchspeicheldrüsenkrebs erkrankt ist.

Lardi liest diesen Brief vor, bevor Helga Bedau im Bild erscheint. Zunächst noch in einer Szene aus dem „Jedermann“, in der dieser an einer voll besetzen Tafel seinen Tod ahnt und fragt: „Hört ihr die Glocken nicht? Warum habt ihr alle Totenhemden an?“ Lardi spricht die Sätze vor, Helga Bedau spricht sie nach, aber niemand aus der großen Familie, mit der sie am Tisch sitzt, kann ihr Antwort geben.

Die eigene Endlichkeit

Das Gespräch der beiden Frauen, die sich während des Projekts erst kennenlernen, ist intim, entstanden unter dem Bewusstsein der eigenen Endlichkeit. Lardi zieht ihm manchmal einen weltzeitlichen Boden ein, sie denkt an die zunehmend verlassen Täler in den südlichen Alpen, aus denen sie kommt. Wo oft nur noch ein paar alte Frauen leben, die sich beim Filterkaffeetrinken in der Bäckerei auf ihr eigenes Aussterben vorbereiten. Sie schaut bedrückt auf eine Welt, in der „wir alles kaputt gemacht“ haben. Aber dieser Blick, der alles zu umfassen sucht und der Milo Rau in vielen seiner politischen Großprojekte beschäftigt, ist hier mehr eine Folie, ein Echo des Sterbens eines Individuums.

Das Stück fokussiert auf eine Person, um dafür eine Sensibilität zu entwickeln. Helga Bedau, die am Ende der Berliner Premiere selbst auf die Bühne kam, fällt das Reden über sich selbst nicht leicht. Theatertext wäre ihr, die früher einmal als Statistin am Theater gearbeitet hat und lange Lehrerin war, lieber als das Reden über sich. Sind Lardis Fragen nicht zu zudringlich, fragt man sich manchmal als Zuschauerin und ist dann doch von Bedaus Aufrichtigkeit berührt.

Dennoch, der inszenierte Dialog zwischen der Schauspielerin auf der Bühne und Helga Bedau im Video hat manchmal etwas fast Gestelztes. Die Ebenen der Fiktion auf der Bühne und des realen Lebens im Video fließen nicht ganz so geschmeidig ineinander wie in anderen Inszenierungen Milo Raus. Auch die rhetorischen Floskeln, „versteht ihr mich“, mit denen sich Ursina Lardi in ihren Reflexionen über den Tod und seine Darstellbarkeit auf der Bühne an das Publikum wendet, zünden nicht immer.

„Everywoman“ bildet eine Zäsur im Werk von Milo Rau. Die Theaterarbeitsbedingungen unter Corona mögen den Anstoß gegeben haben. Nicht zufällig ist in dem Text, den Rau und Lardi mit Helga Bedau zusammen entwickelt haben, oft von einem Moment des Innehaltens die Rede, von der Lücke, bevor etwas beginnt und noch offen ist, wohin die Reise gehen kann. Ursina Lardi erzählt von solchen Momenten, die ihr auf der Bühne die liebsten sind.

Nicht zufällig ist in dem Text oft von einem Moment des Innehaltens die Rede, von der Lücke, bevor etwas beginnt und offen ist, wohin die Reise geht

Die Pause im Theaterbetrieb nehmen Lardi und Rau zum Anlass für Fragen nach der Notwendigkeit von Theater und dem Notwendigen im Theater. Was braucht es für das gemeinschaftliche Erleben im Theater, das Bedau so sehr vermisst hat, dass sie Lardi ihren Brief schrieb. Das Motiv der Begegnung mit dem Tod war schon durch Hugo von Hoffmanns­thals „Jedermann“ vorgegeben. Aber während dort moralische und christliche Dispositive den erzählerischen Rahmen vorgeben, suchen sie nach einem Rahmen, über das reale Sterben zu reden, das im Alltag oft ausgeblendet wird, und dem Mitgefühl eine Form zu geben.

Gegen Ende des Stücks gelingt ihnen dabei ein trostvoller und wunderbarer Moment. Lardi stellt die Regenmaschine an und spielt Bach auf dem Klavier, weil sich Helga Bedau zuvor vorgestellt hat, so zu sterben: zu Hause, bei offenem Fenster, wenn draußen ein Sommerregen niedergeht. In diesem Moment versteht man, was die „Ästhetik der Solidarität“ meinen könnte, von der Milo Rau in einem Interview spricht.

Wer davon viel verstand, war Christoph Schlingensief. „Everywoman“ weckt die Erinnerung an sein Stück „Kunst und Gemüse“, Premiere 2004 an der Berliner Volksbühne. Beteiligt war Angela Jansen, an ALS erkrankt, die zu der Zeit nur noch über die Bewegungen ihrer Augen kommunizieren konnte. Auf vielen Ebenen thematisierte Schlingensief den Verfall. Das Bewusstsein von der eigenen Sterblichkeit, mit dem Angela Jansen lebte und umgehen musste, riss in dem aus­ufernden Megaüberbau etwas auf. Eine Begegnung, die eigentlich unmöglich war, wurde möglich und lebt in der Erinnerung lange nach.

Etwas Ähnliches geschieht in „Everywoman“. Es gibt in der Welt der Präsenzbekundungen in den sozialen Medien eine Floskel, „danke, dass du diesen Moment mit mir geteilt hast“. Aber diesmal passt es. Man möchte sich bei Helga Bedau bedanken, der „Everywoman“ ihre Geschichte geliehen zu haben.