: Kein Land in Sicht
Viele Seeleute bleiben wegen Corona deutlich länger auf den Schiffen als sonst. Das kann sehr belastend sein. Der Hamburger Seemannspastor Matthias Ristau besucht sie an Bord
Aus Hamburg Sabina Zollner
Strommasten und Lagerhallen, Windräder und Hafenkräne ragen in den Himmel. Es riecht nach heißem Asphalt. Entlang von Gleisen rasen Lkws Richtung Hamburg. Unter einer massiven Stahlbrücke glitzert die Elbe in der Sonne. Überall stehen rote und blaue Container; sie verdecken die Sicht auf die Schiffe. Eine Möwe kreischt gegen den Lärm an. Menschen sind im Hamburger Hafen gerade nicht zu sehen.
Mitten in dieser Industrielandschaft steht ein unscheinbares Backsteinhaus – der „Duckdalben“ der Deutschen Seemannsmission, einer evangelischen Sozialeinrichtung für Seeleute. Dalben oder Duckdalben heißen die in den Hafengrund eingerammten Pfähle, an denen Schiffe befestigt und womit Fahrrinnen markiert werden. Sie geben Halt und Orientierung, daher der Name.
Gegründet wurde die Seemannsmission im Zuge der Industrialisierung, als Hamburg eine immer größere Hafenstadt wurde. Seither setzt sie sich für die Rechte von Seeleuten ein und kümmert sich um deren Sorgen. Der Duckdalben im Hamburger Hafen ist ein Seemannsklub. In seinem Garten stehen Hollywoodschaukeln, Liegestühle, eine Tischtennisplatte. Auch ein Basketballfeld. Für die Seeleute ist der Klub ein Zufluchtsort an Land.
An diesem Tag Anfang September sind kaum Seeleute da. Auf der Terrasse sitzt der Seemannspastor Matthias Ristau. Der 51-Jährige ist schmal, sein Gesicht gebräunt. Er trägt Jeans und ein ausgewaschenes Hemd. „Normalerweise sind hier um die 100 Leute täglich, heute, wenn es hoch kommt, 30“, sagt er.
Der Seemannspastor arbeitet seit sieben Jahren für die Seemannsmission. Heute will er an Bord. Während Corona passiert das nicht oft. Der Pastor geht in sein Containerbüro neben dem Duckdalben, packt SIM-Karten und Flyer von der Seemannsmission ein. „Gerade jetzt ist es für die Seeleute wichtig, dass sie Kontakt zu ihren Familien haben können“, sagt er, während er sich seine Schutzkleidung überzieht: gelbe Warnweste, einen dunkelblauen Rucksack mit neongelben Leuchtstreifen, Stahlkappenschuhe. Er sieht jetzt wie ein Hafenarbeiter aus.
Viele Reedereien und Staaten verwehren Seeleuten zurzeit ihren Landgang – aus Angst, sie könnten Covid-19 an Bord bringen. „Es gibt wenig Verständnis von Politikern und Reedereien, dass der Landgang nicht nur ein Spaziergang ist“, sagt der Seemannspastor. Hamburg ist eine Ausnahme, einer der wenigen Häfen weltweit, wo Matrosen ihr Schiff verlassen können.
Auch ist der Hamburger Hafen einer von wenigen, wo jetzt noch Crew-Wechsel möglich sind. Ohne Wechsel müssen Seefahrer*innen weltweit länger arbeiten. Laut der Internationalen Schifffahrtsmission sind etwa 400.000 Seeleute fünf oder sechs Monate länger an Bord als vertraglich festgelegt.
Das ist nicht nur für die Leute auf den Schiffen eine Belastung. Auch für die, die an Land auf ihren Einsatz warten. Die einen kommen nicht runter, verdienen aber. Die anderen kommen nicht rauf, sie hängen ohne Geld im luftleeren Raum. Oft sind es Alleinverdiener aus Schwellenländern wie den Philippinen oder Indien, bei denen die Familie vom Einkommen abhängt.
Matthias Ristau, Seemannspastor
„Die Filipinos sind am gesprächigsten, die Russen weniger“, sagt Matthias Ristau im Auto. Heute ist seine erste Station ein Massenfrachtschiff. Hinter einer Schranke öffnet sich eine rot-bräunlich gefärbte Ladebrücke. Zu sehen ist nur das Heck des Schiffs, von dem Kohle mit einem Kran abtransportiert wird. Auf der anderen Seite der Brücke türmen sich riesige schwarz glitzernde und rotbräunliche Berge von Kohle und Eisenerz.
Ristau fährt an das Ende der Brücke, um zu parken. Doch sein Parkplatz ist besetzt. „Hier ist bereits eine andere evangelische Seemannsmission, wir fahren weiter.“ Ob es mehrere gibt? „Ja. Die haben aber einen anderen Ansatz. Die wollen nicht nur helfen, sondern auch missionieren“, sagt er.
Ristau dagegen will nicht missionieren. Für ihn sei sein Einsatz gegen Ungerechtigkeit das Christliche an seinem Job. In Brasilien lernte er diese Art der Befreiungstheologie 1996 kennen. Dort reiste er durch den Nordosten des Landes und traf Menschen, die in Armut leben. Menschen, für die der Glaube mit dem Kampf gegen Ausbeutung einhergeht. Und Ristau begann zu verstehen, dass Glaube bedeutet, Verantwortung zu tragen und nach gesellschaftlicher Veränderung zu streben. „Das war wie eine Universität des Lebens“, sagt er.
In Brasilien lernte er auch seine Frau kennen, mit ihr kommt er 1998 nach Deutschland zurück. Sechs Jahre später zieht es sie noch einmal nach Südamerika. Auch um ihren zwei Kindern die brasilianische Kultur nahezubringen. In dieser Zeit arbeitet Ristau als Gemeindepfarrer in einem Vorort von São Paulo. 2009 kehrt er nach Deutschland zurück und wird Seemannspastor.
Die Schifffahrt ist eine der gefährlichsten Branchen weltweit. Berufsunfälle sind viel häufiger als in ähnlichen Branchen an Land. 70 bis 90 Stunden pro Woche gelten als normale Arbeitszeit. Während der Pandemie komme es vermehrt zu Suiziden, sagen viele. Zahlen dazu gibt es nicht. Als es einmal einen Todesfall an Bord gab, habe er eine buddhistische Bestattung für den Verstorbenen organisiert, erzählt der Seemannspastor.
Situationen wie diese seien die vergessenen Seiten der Pandemie. „Ich habe eine Geschichte von einem kranken Seefahrer in Südamerika gehört, der sechs Häfen angefahren hat und nicht an Land gelassen wurde. Der Mann ist dann an seiner Krankheit an Bord verstorben.“ Auf einem anderen Schiff, erzählt Ristau weiter, musste der Kapitän seiner Crew die Zähne ziehen. „Es ist, als ob grundlegende Regeln der Schifffahrt gerade nicht gelten“, sagt Ristau.
Normalerweise sind Seeleute vier bis neun Monate unterwegs und haben dann zwei Monate frei. Ein halbes Jahr länger an Bord sei extrem belastend. „Mich erreichen immer wieder Nachrichten von Seeleuten, die sagen: ‚Ich halt es nicht mehr aus‘“, sagt der Pastor.
Ristaus nächste Station ist ein Frachtschiff. Der Pastor passiert eine Schranke, um zu einer Anlegestelle zu kommen. Über eine schmale Gangway betritt er das Frachtschiff. Jeder Schritt an Bord ist begleitet vom Pfeifen und dumpfen Dröhnen des Schiffsmotors. Matthias Ristau versucht, mit einem Seefahrer ins Gespräch zu kommen. Es geht nicht, es ist zu laut.
Ein junger Mann in einer dreckigen orangefarbenen Uniform winkt ihn zu sich herüber. „Komm rein, komm rein“, sagt er. In den engen Gängen hängt ein beißender Geruch nach Schweiß, verbranntem Öl und Benzin. In einer kleinen Kabine sitzen zwei Männer in Jogginghosen schweigend an einem Tisch und essen Reis mit Hühnchen.
Als Ristau den Raum betritt, mustert einer der Seeleute ihn und geht dann. Der Pastor steht unschlüssig da. Die Maske, die Enge, der Lärm – es dauert, bis er sich fasst. „Ich bin von der Seemannsmission, braucht ihr SIM-Karten?“, fragt er in gebrochenem Englisch. „Ich glaub nicht, aber ich schau mal“, sagt Deniz, ein blasser Mann mit Sommersprossen und Piercing im Gesicht. „Wie geht’s?“, fragt Ristau, als Deniz wiederkommt. „Okay, aber ich hab nur zwei Stunden geschlafen; wir mussten das Schiff in den Hafen lenken.“
Der 25-Jährige Ukrainer ist seit acht Monaten unterwegs, erst demnächst hat er zwei Monate frei. Ob er dann nach Hause kommt, ist unklar. Fehlende Flüge, Quarantäneregelungen, lange Wartezeiten. Ristau hat von Fällen gehört, bei denen Seeleute zwei Monate für ihre Rückreise gebraucht haben. „Ich wünschte, wir würden in Europa bleiben“, sagt Deniz. Nur von wo aus er nach Hause fahren kann, steht noch nicht fest. Das Boot ist ein Tramp, ein Frachtschiff ohne konkrete Route.
„Wenn ihr jemanden zum Reden braucht, ruft an“, sagt Ristau, als er sich von den Männern verabschiedet; er lässt einen Sticker der Seemannsmission da. Dass die Seeleute vor ihren Kollegen über ihre Gefühle reden, passiere fast nie, sagt der Pastor. „Es gibt immer noch das Klischee des harten Seebären, der keine Schwäche zeigen will.“
Auch ihren Familien vertrauen sich viele Seefahrer ungern an: „Sie sind ja ihretwegen auf See.“ Viele kontaktieren den Pastor anonym per Mail. Ein philippinischer Seemann schreibe ihm regelmäßig und berichtet, was er seiner Crew kocht, sagt Ristau. Ein Ukrainer erzähle ihm von seiner kranken Frau, die er in einem ukrainischen Dorf zurücklassen musste, um das Geld für die Arztkosten als Seemann wieder reinzuholen. Solche Nachrichten gehen dem Pastor nahe.
Ristau fährt noch einmal zum Massenfrachtschiff, wo vorher kein Parkplatz frei war. Er steigt auf die Ladebrücke und balanciert den schmalen Steg entlang. An der Reling begrüßt ihn eine philippinische Crew. Auch hier ist es laut. Der Lärm, schallend, rauschend, pfeifend, übertönt jedes Wort. Ristau wird in den Aufenthaltsraum geführt, auf einem Tisch stehen Kakao und Tee. Hinten im Raum steht ein großer Fernseher mit Playstation.
Umringt von Kisten mit Parfum, Schokolade, Bluetooth-Boxen sitzt eine junge Frau vor dem Fernseher. Wie der Pastor bringt auch sie die Welt von draußen an Bord. Er setzt sich an einen der Tische. Die Seeleute sagen „Hallo“, wenden sich dann aber wieder der Frau zu.
Ein junger Mann bleibt doch stehen. Er darf mit ein paar Kollegen heute an Land. „Wie weit ist es zum Hard Rock Café?“, will ein Kollege wissen. „Ungefähr eineinhalb Stunden“, sagt Ristau. Enttäuscht blickt der Mann zu Boden. „Und wann schließt das Einkaufszentrum?“ „Um 8 Uhr.“ Der Pastor fragt, wie es ihnen geht, die Seeleute antworten nur knapp in gebrochenem Englisch, sie müssen sich schnell umziehen, haben nicht viel Zeit, nur ein paar wenige Stunden an Land.
Später trifft er die Seeleute im Duckdalben, sie spielen Billard und trinken Dithmarscher Bier. Sie tragen enge Röhrenjeans, Käppis und süßes Parfum. Ob Ristau in die Stadt fährt, wollen sie wissen. Ja, aber er darf sie nicht mitnehmen – coronabedingt. Der Duckdalben ist ihr erster und einziger Stopp. Ein kühles Bier, eine Runde Billard, ein wenig aufatmen, mehr nicht.
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