Gewalt in Belarus – Oppositionelle im Exil

In vielen Städten geht die Polizei massiv gegen die Proteste wegen Wahl-fälschung vor. Präsidentschaftskandidatin Tichanowska flieht nach Litauen

„Gott bewahre, dass jemand vor der Wahl steht, vor der ich stand“

Swetlana Tichanowska aus dem Exil

Aus Kiew Bernhard Clasen

Eigentlich wollte die weißrussische Präsidentschaftskandidatin Swetlana Tichanowska am Montagnachmittag nur kurz zur zentralen Wahlbehörde gehen, um ihre Beschwerde einzureichen. Doch dort angekommen, wurde sie gegen ihren Willen von ihrem Anwalt Maxim Snak getrennt, der in einem anderen Raum warten musste. Und nicht Beamte der Wahlkommission, sondern des Geheimdienstes sprachen mit ihr. Und die waren offensichtlich überzeugend.

Denn nach einem dreistündigen Gespräch verließ Tichanowska das Gebäude, sagte den Wartenden nur: „Ich habe eine Entscheidung getroffen“, und verschwand in unbekannte Richtung. Am nächsten Morgen meldete Linas Linkevicius, Außenminister von Litauen, per Twitter, Swetlana Tichanowska sei in Litauen eingetroffen. Im Laufe des Dienstags ging die Oppositionelle mit einem kurzen Video aus dem Exil an die Öffentlichkeit. Sie hätte die Entscheidung, das Land zu verlassen, allein getroffen: „Viele werden mich verstehen, viele werden mich hassen. Aber Gott bewahre, dass irgendjemand vor die Wahl gestellt wird, vor der ich stand.“

Tichanowskas Mann, der Blogger Sergei Tichanowski, befindet sich im Gefängnis, ist somit Lukaschenkos Geisel, mit der er effektiv Druck auf dessen Frau ausüben kann. Und weitere ihrer Mitstreiter sind ebenfalls in Haft. Kurz nach dem Gespräch in der Wahlkommission wurde eine weitere Geisel, Maria Moros, Leiterin des Wahlkampfstabes von Tichanowska, freigelassen. Nach Angaben der weißrussischen Internetagentur tut.by war die Freilassung von Moros eine Gegenleistung der Behörden für die Zusage von Tichanowska, das Land zu verlassen.

Bereits die zweite Nacht in Folge kam es in der Hauptstadt Minsk und in den Städten Brest, Grodno, Mogiljow, Witebsk und anderen nach der Verkündung des Wahlergebnisses, das Präsident Lukaschenko am Sonntagabend mit 80 Prozent zum Gewinner der Präsidentschaftswahlen erklärt hatte, zu einem teilweise sehr gewalttätigen Vorgehen der Polizei ­gegen die Demonstranten, die gegen die offensichtlichen Wahlfälschungen demonstrierten.

Am Montag berichtete das belarussische Innenministerium vom Tod eines Demonstranten. Dieser habe sich in der Prityzki-Straße mit einem Sprengsatz, den er auf die Polizisten habe werfen wollen, ungewollt selbst verletzt. Die von der weißrussischen Menschenrechtsorganisation „Frühling“ verbreitete Meldung, ein weiterer Demonstrant sei von einem Polizei-Lkw zu Tode gefahren wollen, bestätigte sich indessen nicht.

Übereinstimmend berichten weißrussische und russische Medien von zahlreichen verletzten Demonstranten und Journalisten in der Hauptstadt Minsk. Dort waren die Polizisten mit Wasserwerfern, Blendgranaten, Elektroschockern, Tränengas und Schlagstöcken gegen die Demonstranten vorgegangen, wie die russische Nowaja Gaseta berichtet. Nach Angaben der weißrussischen Agentur Nexta wurden mehrere Demonstranten und eine Journalistin der Zeitung Nascha Niva durch Kugeln der Polizei verletzt. Die Frau musste stationär behandelt werden. Ein tragisches Schicksal ereilte ihren Kollegen Jegor Martinowitsch. Der Chefredakteur von Nascha Niva konnte nur noch ein SOS an seine Freunde per SMS durchgeben. Seitdem ist er unauffindbar. Zuvor hatte die Zeitung gemeldet, dass die Polizei immer wieder gezielt auf Journalisten geschossen habe.

Auch in der nahe der polnischen Grenze liegenden Stadt Brest ging die Polizei brutal gegen Demonstrierende vor. In anderen Städten wiederum waren die Polizisten den Demonstranten zahlenmäßig weit unterlegen, verzichteten auf die Anwendung von Gewalt.

Über ein Dutzend russische Medien protestierten in einem gemeinsamen Schreiben an die weißrussischen Behörden gegen Verhaftungen von und die Gewalt gegen Journalisten in Belarus. „Gewalt gegen unsere Kollegen, bei gleichzeitigem Fehlen jeglicher Information über deren Zustand, macht uns wütend. Wir bestehen auf der sofortigen Freilassung unserer Kollegen“, so das unter anderem von der Nowaja Gaseta, dem Kommersant, Medusa und anderen Medien unterzeichnete Schreiben. Im Fernsehsender „Belarus 1“ behauptete Präsident Lukaschenko hingegen, ein Großteil der Demonstranten sei betrunken gewesen und habe unter der Einwirkung von Drogen gehandelt.

„Die Stimmung unter den Menschen in Belarus ist sehr angespannt“, berichtet Olga Karatch von der Organisation „Unser Haus“. „Schon einige Wochen fühlen wir uns gerade vor dem Hintergrund der ganzen kriegerischen Hysterie, die von Lukaschenko in den Medien entfacht wird, wie in einem Krieg. Erschwert wird die Lage jetzt auch noch durch die Verletzten und einen Toten bei den Demonstra­tio­nen“, so die Menschenrechtlerin Karatch zur taz. Der Kampf gehe weiter, nur die Taktik ändere sich.

Unterdessen haben am Dienstag mehrere Belegschaften angekündigt, wegen der Wahlfälschungen zu streiken. Die letzten Streiks hatte Belarus in den 90er Jahren erlebt.