„Ich wollte zeigen, dass ich es auch kann“

Sandra Schwedler engagierte sich für die Belange von Fußballfans. Heute ist sie Aufsichtsrats­vorsitzende beim FC St. Pauli – die einzige Frau in dieser Position im Profifußball. Ein Gespräch über den Weg vom Fan zur Funktionärin

Interview Marthe Ruddat
Foto Miguel Ferraz

taz: Frau Schwedler, erinnern Sie sich noch an Ihren ersten Stadionbesuch beim FC St. Pauli?

Sandra Schwedler: Das war 1994 und alles total aufregend. Ich war 14. Da waren Tausende Menschen, die Stimme von Rainer Wulff war aus dem Lautsprecher zu hören. Ich glaube, es war ein bisschen regnerisch, abends im September. Meine Schwester­ war damals mit, meine damalige beste Freundin und noch eine Freundin, die schon mal bei St. Pauli war. Wir haben, in der Nordkurve war das, gleich andere Leute kennengelernt, die in unserem Alter waren. Es war einfach ein tolles Erlebnis.

Sie sind ja auch immer wieder gekommen.

Man versteht das ja total schnell: Oh, es gibt Dauerkarten, dann kann ich ja immer hingehen, das ist ja super! So fing das an. Dieses Drumherum, das Fußballgucken an sich und das Gemeinsame haben mich irgendwie fasziniert.

Nur Zuschauen hat Ihnen aber bald nicht mehr gereicht.

Ich bin viel auswärts gefahren und wenn man das macht, trifft man die Leute immer wieder und fängt an zu reden und stellt fest: Da ist ja noch mehr, was man machen kann. Nach der Saison 1996/97, da war ­St. Pauli am Absteigen aus der ersten Liga, war in der Fanszene die Stimmung: Boah, alles ist scheiße. Damals wurden die Amateure aus dem Millerntor verbannt, sie durften da nicht mehr spielen und hatten dann lange keinen Heimplatz mehr. Einige sagten: Wir müssten das eigentlich ändern, und daraufhin haben wir eine Sitzblockade auf dem Platz gemacht und Flyer verteilt. Und da fing das auch an, dass ich gedacht habe, wenn ich etwas verändern will, muss ich in den Verein eintreten.

Das haben Sie auch gemacht.

Ich bin im Juni 1997 Mitglied geworden. Im Herbst war meine erste Mitgliederversammlung und ich war total enttäuscht.

Warum?

Heute ist das anders, aber man durfte damals erst ab 18 wählen. Ich durfte gar nicht mitbestimmen, das war ein bisschen deprimierend.

Sie waren dann über Jahre deutschland- und europaweit in der Fanszene aktiv. Wie kam es, dass sie für den Aufsichtsrat des FC St. Pauli kandidiert haben?

Ich habe verschiedenste Sachen gemacht: den Fanrechtefonds, Partys, Soli-Geschichten, CDs produziert, Choreografien im Stadion, alles Mögliche. Und dann kam halt das Jahr, in dem es darum ging, dass der Aufsichtsrat gewählt werden würde und es war klar, dass vier Leute nicht mehr antreten. Es zeichnete sich ein großer Umbruch ab und allen war klar, wir müssen Leute ins Rennen schicken. Ich habe aber nicht darüber nachgedacht, zu kandidieren.

Warum nicht?

Mir war klar, dass wir Kandidat*innen brauchen, aber selbst kandidieren? Das war gar nicht in meinem Möglichkeitsraum. Ich wurde dann angesprochen und gefragt, ob ich kandidieren will. Ich habe gelacht und bin weggegangen. Die Person hat nicht lockergelassen und ich habe angefangen, mich damit zu beschäftigen, was das heißt. Kann ich das? Will ich das? Was heißt das für meine andere ehren­amtliche Arbeit? Es war klar, dass ich das aus zeitlichen und aus inhaltlichen Gründen nicht alles weitermachen kann. Ich kann nicht Sprecherin von ProFans sein und Aufsichtsrat beim Verein.

Warum haben Sie sich für die Kandidatur entschieden?

Es fühlte sich an wie der nächste Schritt. Ich habe auch gemerkt, dass man mit bloßen­ Forderungen nicht weiterkommt. Veränderung fängt bei einem selbst an, also muss man selbst etwas beitragen. Es macht natürlich auch viel aus, Dinge wirklich ändern zu können. Früher saß ich mit den Verbänden zusammen, bin danach nach Hause gefahren und dachte: Schon wieder einen Urlaubstag verschwendet. Wenn heute andere meine Meinung scheiße finden, müssen sie mir trotzdem zuhören und vielleicht sogar Dinge machen, die sie nicht gut finden. Das ist ein großer Unterschied.

Müssen Sie als Aufsichtsrätin nicht auch Entscheidungen treffen, die sie als Fan gar nicht so gut finden?

40, ist seit 2014 Aufsichtsratsvorsitzende beim FC St. Pauli. Seit zwei Jahren ist sie hauptberuflich als agiler Coach in einer Beratungsfirma tätig. Lange Jahre war sie Sprecherin der bundesweiten Fanorganisation ProFans und ist weiterhin durch Football Supporters Europe gut vernetzt. Sie ist Mitglied im Fanclub „Die feuchten Biber“.

Das ist natürlich ein großer Spagat. Als ich auf der Fanseite war, ging es viel darum, Forderungen zu stellen, es war egal, ob die realistisch sind. Als Aufsichtsratsvorsitzende muss ich realistisch sein. Du hast eine große Verantwortung für diesen Verein, die Mitgliedschaft, Mitarbeiter*innen, die Fans. Nur eine Stimme zu hören, wäre falsch. Unsere Aufgabe ist es, den ganzen Verein zu schützen.

Bis heute stehen Sie auch im Mittelpunkt, weil Sie die einzige Frau im Profifußball auf so einer Position sind. Nervt es Sie, als jemand Besonderes betrachtet zu werden?

Am Anfang hat mich das total genervt, weil mich das so reduziert­ hat auf ein bestimmtes Thema. Keiner hat danach gefragt, was für Kompetenzen ich eigentlich habe, diesen Job auszufüllen. Es ging immer nur um das Sein als Frau. Das hat mich genervt, bis ich gemerkt habe, was für eine Kraft da drinsteckt, das Thema öffentlich zu platzieren, in die Köpfe der Leute zu bringen und mit Thesen auch mal anzuecken.

Ecken Sie gerne an?

Grundsätzlich nicht, aber ich habe gelernt, wenn man immer nur das sagt, was alle hören wollen, gibt es keine Diskussion. Der spannende Teil fängt ja erst an, wenn Menschen mit Thesen konfrontiert sind, die erst einmal irritieren.

So eine These ist, dass Sie für eine Frauenquote von 50 Prozent in den Führungsgremien im Fußball plädieren.

Wenn sie mich vor ein paar Jahren gefragt hätten, ob ich eine Quote in Führungsetagen gut finden würde, hätte ich gesagt: Auf keinen Fall, ich will ja keine Quotenfrau sein. Mittlerweile sage ich, Quote muss sein. Ich würde mir wünschen, dass sie nicht nötig wäre, aber ich denke, dass wir eine Quote brauchen, um Veränderung hervorzurufen.

Was würde sich denn ändern, wenn es mehr Frauen in Führungspositionen gäbe?

Ich glaube, die Gesellschaft ist sehr männlich geprägt. Natürlich gibt es laut Gesetz eine Gleichstellung, aber die bildet sich nicht in unseren Köpfen und der Gesellschaft ab. Der Fußball funktionierte lange Zeit über ein Netzwerk von alten, weißen Männern, die bestimmt haben, wie der Fußball sein muss. Durch ein Aufbrechen dieser Strukturen wird der Fußball vielfältiger, inklusiver und kann die Rolle in der Gesellschaft wahrnehmen, die ihm zusteht. Ich finde es in allen Bereichen schwierig, wenn ein kleiner Teil eine Deutungshoheit­ über andere Menschen besitzt. Deshalb finde ich Diversität wichtig. Das ist natürlich anstrengend, aber ich glaube, die Lösungen werden besser. Auch unser Verein wird besser, wenn wir vielfältiger sind und auch mal andere Stimmen hören.

Wie war das denn früher, als Sie als weiblicher Fan im Stadion standen?

Ich glaube, für mich war es schon immer so, dass ich mich als Frau bei bestimmten Dingen beweisen musste. Wenn du im Zug sitzt und über Fußball redest und jemand sagt: „Ey, ist ja cool, eine Frau die Ahnung von Fußball hat“, da dachte ich: Ja, cool, der erkennt mich an. Wenn ich heute darauf gucke, frage ich mich, was das für eine Aussage ist.

Sie mussten sich beweisen?

„Ich hätte früher immer gesagt, jede Frau, die das so will wie ich, packt das auch. Heute würde ich das nicht mehr sagen“

Ich wollte zeigen, dass ich es auch kann. Ich kann eine Schwenkfahne schwenken, ich habe die Kraft, das können nicht nur Jungs. Ich habe alles selber gemacht, um zu zeigen, dass ich das kann. Das hat dazu geführt, dass ich anerkannt wurde und eine Stimme hatte. Es gibt ja auch dieses Phänomen, dass Frauen die größten Kritikerinnen anderer Frauen sind, die neu in eine Gruppe kommen. Ich glaube, das habe ich früher auch gemacht. Es kam mir nicht in den Sinn zu sagen: Oh cool, da ist eine andere Frau, lass mal gucken, wie ich die unterstützen kann, dass sie in diese Gruppe reinkommt. Ich hätte früher immer gesagt, jede Frau, die das so will wie ich, packt das auch. Heute würde ich das nicht mehr sagen.

Was ist denn passiert, dass sich bei Ihnen ein anderes Bewusstsein entwickelt hat?

Ich glaube, durch meine Position als Aufsichtsratsvorsitzende bin ich mehr damit konfrontiert, das ist die eine Sache. Außerdem werde ich älter und reifer. Und in meinem Umfeld passiert total viel, ich bin ja auch nicht die Einzige, die sich mit dem Thema beschäftigt. Beim Handball haben wir seit einigen Jahren eine Kooperation mit der Queeren Vernetzung...

...einer Einrichtung in Hamburg, die die Lebenssituation von jungen lesbischen, schwulen, bi-, trans*-und intersexuellen* Menschen verbessern will.

Wir haben in dem Zusammenhang verschiedene Sachen gemacht, uns beispielsweise gefragt, was ist eigentlich mit der Sprache? Wie schaffen wir es, dass wir schon in der Jugendabteilung Sprache sinnvoll benutzen? Und da sagen wir jetzt nicht mehr: „Bring doch bitte Mama und Papa mit“, sondern „Bring doch bitte deine Eltern mit“. Das sind so Kleinigkeiten, es ändert sich etwas Stück für Stück. Dadurch lerne ich auch mehr, höre mehr hin, reflektiere: Was steckt dahinter und welche Muster bediene ich, welche will ich bedienen und welche nicht?

All das klingt nach viel Arbeit, dabei ist die Aufsichtsratsposition ein Ehrenamt.

Es kommt immer drauf an. Manchmal sind es 20 bis 30 Stunden in der Woche, manchmal nur fünf bis zehn Stunden. Seit Corona ist es aber stark angestiegen. Wir müssen viel mehr gucken, wie es weitergeht, all das mit der großen Unsicherheit, wie sich Corona entwickelt.