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Tote Tage in Virtual-Reality

Gelungene Aktualisierung: Mit „Barlach Reloaded“ präsentiert das Ernst-Barlach-Museum in Ratzeburg den Expressionisten mit einem neuen multimedialen Konzept und einer App

Von Hajo Schiff

International sei er viel berühmter als in seiner norddeutschen Heimat. Dort gelte die expressionistische Plastik von Ernst Barlach eher als etwas gestrig – trotz, oder paradoxerweise gerade wegen der Präsenz an und in Kirchen in Lübeck, Ratzeburg, Magdeburg und Güstrow und die Ehrenmale in Hamburg und Kiel. Das meint jedenfalls Heike Stockhaus, seit 32 Jahren als Hauptkustodin der Barlach-Gesellschaft im Einsatz für den norddeutschen Künstler-Schriftsteller, der vor 150 Jahren geboren wurde. Und so wollte sie für die vor zwei Jahren beschlossene Neugestaltung des Barlach-Museums in Ratzeburg mit einem möglichst aktuellen und multimedialen Ansatz den Künstler erneut stärker präsent machen.

In der Holsteiner Domstadt lebte Barlach von 1876 bis 1884, nur acht, aber entscheidende Jugendjahre. Sein zweistöckiges Vaterhaus, ein gleich neben der Stadtkirche St. Petri idyllisch gelegenes Fachwerkgebäude mit klassizistischer Gartenloggia, ist eines von vier norddeutschen Barlach-Museen in Hamburg, Wedel, Güstrow und eben Ratzeburg. Der Name der Stadt geht auf Ratibor bzw. Ratse zurück, einen obodritischen Fürsten, der hier eine Burg besaß.

Dieser historische Bezug zu den in Ostholstein vom 8. bis zum 12. Jahrhundert dominanten slawischen Polaben ist für die Barlach-Forschung insoweit interessant, da hier neuerdings eine Faszination des jungen Künstlers durch diesen Aspekt der regionalen Geschichte belegt werden kann. Ihr ist der erste Raum des Museums gewidmet. Hier zeigen frühe Zeichnungen dichte Wälder, seltsame Hexen und das alte Ansverus-Kreuz, das in der Nähe auf dem Berg steht, an dem der missionierende Abt von den Obodriten 1066 gesteinigt wurde – was ihm nach dem späteren gewaltsamen Sieg des Christentums die Heiligsprechung einbrachte.

Seine Unterschrift unter einer Ergebenheitsadresse der Künstler an Adolf Hitler war 1934 eine einmalige Ausnahme

Vielleicht geht Barlachs frühes Interesse an naturmystischen Geistern und heidnisch-slawischen Erdmüttern auch darauf zurück, das die Ratzeburger Dominsel einst das Hauptheiligtum der polabischen Fruchtbarkeits- und Erntegöttin Siva war – bisher wurde der slawische Einfluss auf Barlachs Gedankenwelt immer auf die Russlandreise von 1906 zurückgeführt. Als ursprünglich und einfach romantisierte barbarische Lebensformen waren und sind sie gut zur Kritik an der Industrialisierung zu nutzen.

Denn die Vergangenheit, sei sie auch teilweise imaginiert, kann Anstöße für die Utopien der Zukunft geben, wenn denn die Gegenwart als problematisch empfunden wird. Wie sehr Barlach sich zeitlebens in Opposition zu seiner Zeit fand, zeigen alle historischen Kontexte – seine Unterschrift unter eine Ergebenheitsadresse der Künstler an Adolf Hitler ist 1934 eine einmalige verzweifelte Ausnahme.

In den „Mensch und Natur“ und „Mensch und Welt“ betitelten Räumen binden groß projizierte, neu erstellte Kontextfilme die Skulpturen in eine Rauminstallation ein und konfrontieren die stillen Arbeiten mit Bildern von damaligen und heutigen Kriegen und alter und neuer Umweltzerstörung. Denn allzu leicht wird übersehen, dass diese oft formal ganz in sich geschlossenen Arbeiten Bettler und Leidende, verstört Erschreckte und Flüchtende darstellen.

Im zentralen Raum mit der – vielleicht in die Zukunft – „Lauschenden“ sollen in Bälde Installationen von Kunststudenten der Muthesius-Hochschule in Kiel zu erleben sein. An zehn im Museum verteilten Stellen können die Besucher mit einer auf dem Mobiltelefon zu installierenden Haus-App QR-Codes scannen und interaktiv Näheres zu einzelnen Figuren, ihrem alten und individuell neuen Kontext erfahren und das Auseinandersetzungsergebnis als persönliche „Postkarte“ mitnehmen. Vollends digital wird es im letzten Raum: Auf einer 5,60 Meter langen Touchscreen-Fläche zeigt sich eine digitale Timeline der letzten 150 Jahre, aus der in breiter, jährlicher Vielfalt mittels Bildern, Filmen und Dokumenten das ganze politische und kulturgeschichtliche Umfeld von Barlachs Leben und Werk hervorgeholt werden kann.

Der erste Stock ist ganz dem Schriftsteller Barlach gewidmet, seiner heute eher weniger bekannten Seite. Hier geht es vor allem um seine sieben Dramen. Von ihm selbst als zeichnerisch illustrierte Texte konzipiert, deren Aufführung er weitgehend für unnötig, ja unmöglich glaubte, erlebten diese Werke dennoch bis heute weit über hundert Inszenierungen. Da das Museum kein Ort zum Bücherlesen ist, trumpfen hier die neuen Medien erst recht auf. In Video-Ausschnitte von Aufführungen und Großfotos von Bühnenmomenten können sich die Besucher hineinprojizieren („Augmented Reality“). Wer Kontaktdaten hinterlässt, bekommt die elektronische Collage dann per E-Mail nach Hause. Der Clou aber ist eine Virtual-Reality-3-D-Installation: Eine Aufführung von Barlachs erstem Stück „Der Tote Tag“ kann erlebt, ja sogar als Mitspieler beeinflusst werden. Das aktive Eingreifen ist aber bei den Software-Start-ups in Berlin noch in Arbeit, es läuft erst eine Probeversion.

Gerade die Älteren könnten den ganzen App- und VR-Aufwand als eher unnütze Spielerei abtun. Doch bei einem Künstler, für den die zeichnerisch skizzierte Situation und der statuarisch in Bronze geronnene ausdrucksvolle Moment ebenso wichtig waren wie die theatralische Verlebendigung seiner Figuren in zahlreichen Dramen, erscheinen solche zeittypischen Inszenierungen besonders passend. Bei der nun wieder empfehlenswerten Reise zum Ernst-Barlach-Museum Ratzeburg ist es aber auf jeden Fall zu vermeiden, in dieser so schön gelegenen Inselstadt mit ihrem prachtvollen spätromanischen Dom über den zentralen Marktplatz zu gehen. Denn dessen moderne Neugestaltung ist, ganz im Gegensatz zu der des Ernst-Barlach-Museums, geradezu schmerzhaft misslungen.

„Barlach Reloaded“, Ernst-Barlach-Museum Ratzeburg, www.ernst-barlach.de, www.barlachreloaded.de

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