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Ausverkauf einer Traumlandschaft

Wer ist schuld an solchen urbanen Nichtorten wie am nördlichen Spreeufer zwischen Ostbahnhof und Warschauer Straße? Die Guerilla Architects und Alicia Agustín gingen dieser Frage im Radialsystem nach

„We are sorry“ – die Guerilla Architects im nichtöffentlichen Raum Foto: Phil Dera

Von Marielle Kreienborg

Erkenntnis ist der erste Schritt zur Besserung: Mit diesem Wissen begann am Wochenende der Auftakt der Trilogie „1 km[2]Berlin – Die Tragödie der offenen Stadt“ im wiedereröffneten Radialsystem. Das Künstler*innenkollektiv Guerilla Architects geht gemeinsam mit der Performerin und Autorin Alicia Agustín der durch Spekulation geformten Kulisse des nördlichen Spreeufers auf den Grund.

Und in der Tat drängt sich mit Blick auf die Stadtplanung zwischen Ostbahnhof und Warschauer Straße, wo sich mit der East Side Mall und dem Mercedes-Platz ein Nichtort an den anderen reiht, die Frage auf: Wie konnte es dazu kommen?

Der Quadratkilometer im Umkreis um die Ruine der Brommybrücke wird zum Schauplatz einer Tragödie, in der sich jede*r Handelnde schuldig macht: „Wenn sich alle Architekt*innen anders verhalten würden“, sagt eine der Architektinnen, die an der Verwandlung von Freiheitsräumen in Investorenträume beteiligt war und deren O-Töne die Videoperformance wiedergibt, „dann gäbe es natürlich eine Wahl, aber das passiert natürlich nicht in einem kapitalistischen System.“

Um die fortschreitende Privatisierung der Umgebung zu verstehen, führt der Weg zurück zum Anfang: Nach dem Mauerfall fiel das Gebiet um die Brücke in einen Dornröschenschlaf, in dessen Zuge der Technoclub „Ostgut“ zahlreiche Träume(r) gebar – bis die Traumlandschaft in einem ehemaligen Güterbahnhof im Jahr 2003 für den Bau der Mercedes-Benz-Arena vernichtet wurde. Eine „Moderne Multifunktionshalle“ sollte, um es mit den Worten des damaligen Bürgermeisters Klaus Wowereit auszudrücken, „den Startschuss in ein neues Unterhaltungszeitalter in Berlin“ markieren. Darüber, was Unterhaltung ist, gehen die Meinungen bekanntlich auseinander.

„Alles begann“, berichten die drei Performer*innen im Video, „mit einem Eisbären“. Nicht jedoch mit den ausgehungerten Exemplaren unserer Gegenwart, denen der Klimawandel ihre Lebensgrundlage entzogen hat (allein die Stromversorgung des Areals lässt daran zweifeln, dass die Betreiber sich um das Klima sorgen), die Rede sei von den Berliner Eisbären. Im Jahr 2001 kaufte der sportbegeisterte amerikanische Investor Philip Anschutz erst die gleichnamige Eishockeymannschaft und im nächsten Zug gleich das gesamte Areal auf.

„Dies ist kein öffentlicher Raum“, wiederholen mehrere Sprecher, während sie auf dem Mercedes-Platz stehen, der mehr an ein kommerzielles US-amerikanisches Vergnügungsviertel als an einen durchdachten Beitrag zu lebendiger Stadtgestaltung erinnert. Wieder mal ist Freiheit mit Konsum verwechselt worden. Aber wer trägt die Schuld an diesem städtischen Schlamassel?

Die Situation am nördlichen Spreeufer als Beweis für unmenschliche Investor*innen, politisches Versagen des Berliner Senats, Bezirks- oder Bauamts zu zitieren, das griffe nach Ansicht der Guerilla Architects jedenfalls zu kurz. Vielmehr hegten die Macher*innen die Absicht, mit ihrer Videoinstallation „we are sorry“, die den ersten Akt der Trilogie bildet, einen narrativen Raum zur Selbstreflexion und hoffentlich einsetzender Katharsis zu eröffnen. Und zwar, indem die Zuschauer*innen – und sie selbst (beim Verlassen der Installation offenbaren sich den Besucher*innen die persönlichen Schuldbekenntnisse des Kollektivs) – feststellten, dass auch sie keinesfalls unschuldig seien an den Ambivalenzen zeitgenössischer Stadtentwicklung.

Die Zuschauer*innen sind keineswegs unschuldig an diesem Schlamassel

Die Stadt ist für die studierten Architekt*innen ein sozialer Raum, der erlebt, nicht bloß beschrieben werden will. Ihr Praxiswissen und die Ergebnisse ihrer Recherchearbeiten setzen die Guerilla Architects deshalb auch artistisch um: Durch das räumliche Setting eines Showrooms, wie ihn die Immobilienbranche für ihre Verkaufsgespräche nutzt, machen sie das Anschutz-Areal erfahrbar.

In direkter Ansprache konfrontieren sie die Besucher*innen mit der Frage, wer denn nun verantwortlich sei für den Ausverkauf der Stadt: „Eine Fläche, 21 Hektar, von Bewohner*innen der Stadt bereits genutzt. Die Stadt Berlin jedoch, überfordert von der neuen Einheit, händeringend suchend nach Inspiration: was denn zu tun damit?“

Eine Antwort bleiben sie vorerst schuldig: Akt zwei und drei folgen im Oktober und Dezember.

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