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Wut vor Disziplin

Massendemos in Israel fordern: Benjamin Netanjahu soll zurück­treten. Er konnte eine zweite Coronawelle nicht verhindern – und steckt tief in Korruptions­­skandalen

Aus Jerusalem Marina Klimchuk

Schande! Schande! Schande!“ Vor Heiserkeit bricht ihre Stimme beinahe ab. Aber es ist nicht die richtige Zeit zu verstummen. Seit Stunden hat sich eine Traube von Demonstrant*innen um die Residenz von Israels Ministerpräsident Benjamin Netanjahu in Jerusalem gebildet. Die glühende Sommerhitze ist abgeflaut, stattdessen schwitzt man vom Gedränge, vom Lärm der Parolen und Trommeln, von der Atemlosigkeit. Hunderte Polizisten laufen um die Protestierenden herum, jeden Moment kann es zur Eskalation kommen. Der Adrenalinrausch trägt sie weiter, von Tag zu Tag, von Demo zu Demo, von Tel Aviv nach Jerusalem und wieder zurück. Wochenlang, ohne Pause.

„Vielleicht denkst du, ich bin zu optimistisch. Aber ich glaube, es wird nicht mehr lange dauern!“ sagt Emma Maghen-Tokatly. „Es“, damit ist der Rücktritt Netanjahus, genannt Bibi, gemeint. In ihrer Forderung ist die 36-Jährige aus Tel Aviv kompromisslos. „Ich demonstriere schon seit Jahren gegen Bibi und für Demokratie und Gerechtigkeit. Damit haben wir den Grundstein für alle Proteste gelegt, die das Land jetzt erlebt. Corona und die Wirtschaftskrise sind wie ein Katalysator für einen Prozess, der sehr tiefe Wurzeln hat.“

Seit Wochen ist Israel im Ausnahmezustand. Seit dem Ausbruch einer zweiten Coronawelle protestieren die Menschen im ganzen Land. Korruption, intransparente politische Entscheidungsprozesse, Existenzängste, Polizeigewalt, die Besatzungspolitik der palästinensischen Gebiete – unterschiedlich motivierte Proteste befeuern sich gegenseitig. Demonstriert wird in allen größeren Städten, auf Autobahnbrücken und Straßenkreuzungen im ganzen Land. Überall schwingen die Protestierende ihre Fahnen. Voldemort, die finstere Figur aus den Harry-Potter-Romanen, „würde es besser machen!“, wird auf einem selbst gebastelten Plakat über Netanjahu gespottet. Straßen werden blockiert, Mülltonnen brennen, die Atmosphäre ist eine Mischung aus Festival und Revolte. Eine zentrale Führungsriege oder Reden von Poli­ti­ke­r*in­nen gibt es in den Protesten jedoch nicht: Jede Demonstration wird spontan von den Teilnehmenden choreografiert.

Corona im Heiligen Land

Kranke: Seit Ausbruch der Pandemie haben sich 77.919 Menschen in Israel mit dem Coronavirus angesteckt. 51.378 sind wieder gesund sind, 345 Menschen derzeit in einer kritischen Verfassung.

Neue Fälle: In den vergangenen zwei Wochen schwankt nach Angaben der Zeitung Ha’aretz die Zahl der täglichen Neuerkrankungen täglich zwischen 1.500 und 2.000.

Tote: 565 Menschen sind gestorben, etwa zehn kommen jeden Tag hinzu. Die Todesrate liegt bei 0,7 Prozent – unter anderem wegen des niedrigen Altersdurchschnitts.

Die Polizei geht zum Teil mit Gewalt, mit Wasserwerfern und Festnahmen im Würgegriff gegen die Demonstrant*innen vor, die aber in der Regel nach einigen Stunden wieder freigelassen werden. Die Wut der israelischen Bürger*innen kulminiert in einer Zeit, in der vergangene Woche mit über 2.000 Corona-Neuerkrankungen am Tag Rekordwerte erreicht wurden, die es seit Ausbruch der Pandemie noch nicht gegeben hat. Seitdem steigen die Zahlen etwas langsamer, besiegt ist die zweite Welle aber noch längst nicht. Jeder Fünfte im Land ist arbeitslos, viele haben kein Geld für Lebensmittel. Die Situation ist außer Kontrolle. „Uns Israelis hält so etwas wie ein patriotischer Klebstoff zusammen“, sagt Maghen-Tokatly. Die Vorstellung, die eigene Regierung zu stürzen, fühle sich für viele an, als ob man sich gegen die eigene Familie richten würde. Dass es so weit gekommen ist, zeige nur, „dass in diesem Land politisch untragbare Sachen passieren und die Menschen verzweifelt sind“, sagt die Mutter zweier Kinder.

Als die WHO im März Covid-19 als globale Pandemie einstufte, handelte Netanjahu unverzüglich. Als eines der ersten Länder machte Israel seine Grenzen für Touristen dicht, schloss Schulen und Kindergärten und verbot Festivals und Veranstaltungen. Die israelische Öffentlichkeit ist an Krisensituationen gewöhnt und passte sich schnell an die massiven Einschränkungen der Bewegungsfreiheit an. Die Kurve flachte ab und die Zahl der nachgewiesenen Infektionen und Corona-Todesfälle blieb im internationalen Vergleich niedrig. Israel wurde für die musterhafte Virusbekämpfung gelobt.

Gleichzeitig sah sich das Land innerhalb weniger Wochen mit der höchsten Arbeitslosenquote in seiner Geschichte konfrontiert. Über eine Million der knapp neun Millionen Israelis verloren ihren Arbeitsplatz – dabei besteht bis zu sechs Monate Anspruch auf Arbeitslosengeld, Frei­be­ruf­le­r*in­nen gehen leer aus. Die von Netanjahu hastig angekündigten Einmalzahlungen zwischen 180 und 500 Euro, die alle israelischen Bürger*innen kommende Woche erhalten sollen, wirken dagegen wie ein Tropfen auf den heißen Stein.

Vor der Krise organisierte Emma Maghen-Tokatly gemeinsam mit ihrem Ehemann freiberuflich Festivals und Partys. Tel Aviv, die Stadt die niemals schläft, ist internationalen bekannt für ihre elektronische Musik. Aus der ganzen Welt reisen DJs an, um in der Party-Hauptstadt des Nahen Ostens aufzulegen. „Wir hatten lauter DJs aus dem Berghain hier“, sagt Maghen-Tokatly und meint den berühmten Club in Berlin. „Tel Avivs Partyszene kann mit allen Metropolen mithalten. In diesem Frühling sollte der ganz große Boom kommen“.

„Letztendlich werden die Leute aus seiner eigenen Partei Netanjahu stürzen“

Emma Maghen-Tokatly, Protest-Organisatorin

Stattdessen zog Corona ihr den Boden unter den Füßen weg. Was morgen sein werde, oder in zwei Wochen? Auf diese Frage schüttelt sie nur den Kopf, daran könne sie jetzt nicht denken. Stattdessen müssen die Kinder aus dem Kindergarten abgeholt, die Aktivist*innen auf Whatsapp vernetzt, Anfragen von Medien beantwortet werden.

Mit Beginn der Krise im März beschloss die Regierung Eingriffe in die Bürgerrechte: der Inlandsgeheimdienst begann, Handy- und Kreditkartendaten aller Bürger*innen zu überwachen, um sie mit Bewegungsdaten von Corona-Infizierten abzugleichen. Beinahe zeitgleich wurde das Zusammenkommen des Parlaments ausgesetzt. Netanjahus Krisenmanagement traf bei Israelis nicht auf Gegenliebe: Protestierende riefen die Bewegung „Schwarze Flagge“ ins Leben, die vor Aushöhlung der Demokratie unter Netanjahu und seiner im März neu gebildeten nationalen Notstandsregierung warnt. Während der Ausgangssperre fuhren Hunderte von Autos als Konvoi zur Knesset. Weil sie sich nicht versammeln und Parolen rufen durften, hielten die Demonstranten stattdessen schwarze Fahnen hoch und hupten laut. Maghen-Tokatly war eine von ihnen.

Trotz der Wirtschaftskrise und obwohl Netanjahu sich wegen Bestechlichkeit, Betrugs und Untreue vor Gericht verantworten muss, schossen seine Beliebtheitswerte nach der anfänglichen Krisenbewältigung in die Höhe. King Bibi, wie manche Israelis Netanjahu nennen, rief schon den Sieg gegen Corona aus, indem er die Bevölkerung öffentlich aufforderte, Kaffee oder Bier trinken zu gehen.

Seit Ende Mai aber steigt die Zahl der Coronafälle wieder stetig. Als Gründe dafür gelten eine übereilte Lockerung der Coronamaßnahmen und das Fehlen einer langfristigen politischen und wirtschaftlichen Strategie. Infektionsherde sind Schulen, medizinische Einrichtungen sowie Großveranstaltungen wie Hochzeiten oder Konferenzen, die mittlerweile aber nicht mehr erlaubt sind. Weder die Maskenpflicht noch Abstandsregeln werden von der Bevölkerung konsequent eingehalten.

„Wir sind kein diszipliniertes Volk. Und wenn politische Führungsfiguren sich selbst nicht an die Verordnungen halten, die sie dem Volk auferlegen, sondern nur ihre eigenen Interessen verfolgen, wie sollen wir Corona jemals bewältigen?“ Die 77-jährige Robi Damelin hat Angst, dass die Situation außer Kontrolle und kein Ende in Sicht sei. Während Politiker*innen mit ihren eigenen Machtkämpfen beschäftigt sind und sich nicht auf Maßnahmen zur Virusbekämpfung einigen können, wüten die Demonstrationen im Land weiter und nehmen revolutionäre Züge an. Mehrere Protestierende wurden vergangene Woche von ultrarechten Aktivisten mit Glasflaschen und Pfefferspray angegriffen und mussten ins Krankenhaus. Die Polizei nahm sie nicht in Schutz.

„Ich habe etwas Verrücktes getan und bin vor ein paar Wochen gegen die Annexionspläne der Regierung demonstrieren gegangen. Ich weiß, dass ich das in meinem Alter nicht tun sollte, aber für mich bedeutet Annexion den Anfang vom Ende dieses Staates. Dem kann ich nicht einfach tatenlos zusehen“, sagt Damelin. Sie meint den völkerrechtswidrigen Plan der israelischen Regierung, Teile des Westjordanlandes zu annektieren und damit die israelische Besatzung der palästinensischen Gebiete zu verfestigen. Wie Maghen-Tokatly glaubt auch Damelin, dass der Regierungschef von seinem Zauber eingebüßt hat und viele seiner Anhänger*innen langsam verstehen, dass er nicht mehr der König ist, den das Land braucht.

Hilfe für Beirut

Evakuierung nach Zypern: Israel will bei der Versorgung von Opfern der verheerenden Explosion von Beirut helfen, sollten welche von ihnen nach Zypern ausgeflogen werden. Die israelische Regierung will medizinisches Personal nach Zypern entsenden, wenn Verletzte aus Libanon auf die Insel gebracht werden.

Alte Feindschaft: Kurz nach der Explosion hatte Libanon Hilfsangebote Israels abgelehnt. Krankenhäuser im Norden Israels hatten sich bereit erklärt, Verletzte zu behandeln. Libanesen sind jegliche Kontakte mit Israelis verboten.

Wie Maghen-Tokatlys Alltag, hat sich auch Damelins Leben seit dem Ausbruch der Pandemie radikal verändert. Einem Treffen in ihrer Wohnung stimmt sie nicht zu, dafür präsentiert sie auf Zoom stolz das Katzenbaby, die sie adoptiert hat, da sie nicht mehr reisen kann. Als „vom Aussterben bedrohte Art“, wie sie ironisch auf ihr Alter anspielt, fühle sie sich eingesperrt. Drei Monate lang habe sie ihren Enkel nicht gesehen und auch jetzt zögere sie vor jedem Treffen. Aber anders als bei vielen ihrer Altersgenossen, die in der Isolation große Einsamkeit erfahren, ist ihr Terminkalender immer noch voll. „16 Jahre lang verging kein Monat, ohne dass ich irgendwo in der Welt auf Reisen gewesen wäre. Jetzt ist das alles nur noch virtuell möglich. Und wenn mich jemand mit meinem grauen Haar auf der Straße sieht, wechseln sie manchmal die Straßenseite, um mir nicht zu nahe zu kommen.“

Nachdem 2002 während der Intifada ein palästinensischer Scharfschütze Damelins Sohn David getötet hatte, nahm ihr Leben eine drastische Wende. Damals fand sie Trost und Halt in der israelisch-palästinensischen Organisation Parents Circle und machte sich die Arbeit in der Organisation zu ihrer Lebensaufgabe. Die Elterninitiative ist ein Zusammenschluss von rund 600 Israelis und Palästinenser*innen, die durch die Gewalt zwischen ihren Völkern Kinder oder nahe Familienangehörige verloren haben. Sie setzen sich gemeinsam für Dialog, Versöhnung und Toleranz ein. Statt im Flieger zu sitzen, vernetzt Damelin sich nun online. „Meine palästinensischen Freundinnen scherzen, dass Corona es ihnen ermöglicht, mich zu sehen, ohne durch Checkpoints zu müssen. Eigentlich sollte Zoom den Friedensnobelpreis in diesem Jahr erhalten“, sagt sie und lacht. Abends sitzt sie auf der Bank vor ihrem Wohnhaus im arabisch geprägten Tel Aviver Stadtteil Jaffa und trinkt mit ihrer besten Freundin Gin Tonic.

„Für mich bedeutet die geplante Annexion den Anfang vom Ende dieses Staates“

Robi Damelin, Seniorin und Aktivistin

Bei den Demonstrationen hält kaum einer die Abstandsregeln ein, einige tragen auch keine Masken. Auch jetzt arbeiten Bars und Restaurants weiterhin in vollem Betrieb. Nachtclubs müssen aber geschlossen bleiben. Stattdessen klingt das Trommeln der Protestierenden bis spät in die Nacht hinein nicht ab, der alltägliche Tel Aviver Geruch von Marihuana mischt sich unter die De­mons­tran­t*in­nen. Maghen-Tokatly und Dutzende Kulturschaffende aus Tel Aviv organisieren heute keine Partynächte mehr, sondern Shuttlebusse nach Jerusalem, um vor Netanjahus Residenz zu demonstrieren. Seit Wochen kommen allein in Jerusalem jedes Wochenende an die 10.000 Menschen zu den Demos.

Netanjahus Versuch, die Protestierenden als linke Anarchisten und „Bolschewisten“ zu diskreditieren, greife kaum noch, sondern bewirke eher das Gegenteil, sagt Maghen-Tokatly. Längst nicht alle, die auf die Straße gehen, seien links, sondern würden ein breites politisches Spektrum vertreten – von Antifa bis Likud, der nationalliberalen Partei Netanjahus. Sie selbst stammt aus einer Familie, in der traditionell der Likud gewählt wurde. Mit der Zeit ist sie selbst aber immer weiter nach links gerückt. „Letztendlich werden es die Leute aus seiner eigenen Partei sein, die ihn stürzen werden“, glaubt sie. Netanjahu, seit 2009 an der Macht, ist der am längsten amtierende Regierungschef Israels. Erst im April hat seine Regierung nach monatelangem Stillstand ihre Arbeit aufgenommen, nachdem eine politische Pattsituation im vergangenen Jahr zu drei Parlamentswahlen führte.

Vorerst dürfen die Restaurants, Strände und Bars im Land offen bleiben, so der Beschluss der Regierung. Sollte die Zahl der Erkrankungen abnehmen, wollen sie weitere Beschränkungen aufheben. Tel Aviv, die Stadt, die niemals schläft, darf ihrem Hedonismus erst einmal weiter frönen als gäbe es kein Morgen – für manche mit Maske, für andere ohne.

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