Es geht wieder los

In Hamburg und Mecklenburg-Vorpommern beginnt diese Woche das neue Schuljahr. Bald sollen auch die Schulen im restlichen Deutschland zum Regelunterricht zurückkehren – und nur mehr im Notfall schließen. Kann das gut gehen?

Gewohnter Anblick in ungewöhnlichen Zeiten: Jungen und Mädchen melden sich bei ihrer Einschulungsfeier in der Grundschule Lankow in Mecklenburg-Vorpommern Anfang August 2020 Foto: Jens Büttner/dpa/piture alliance

Aus Berlin und Hamburg Ralf Pauli
und Esther Geißlinger

So viel bundesweite Aufmerksamkeit ist Bettina Martin nicht gewohnt. Die ganze Woche über hat die Bildungsministerin von Mecklenburg-Vorpommern die Fragen der überregionalen Medien beantwortet: Ob Schüler:innen im neuen Schuljahr Maske tragen müssen. Wie ihre Teststrategie für Urlaubsrückkehrer und Lehrkräfte aussieht. Und ob – falls die zweite Corona-Welle tatsächlich kommt – die Internetverbindung auf dem Land gut genug ist für ein erneutes Homeschooling.

Auf den ersten Blick mag das Interesse am dünn besiedelten Nordosten überraschen: In „Meck-Pomm“ gibt es gerade mal 563 Schulen, gut 150.000 Schüler:innen werden hier unterrichtet – das sind nur etwas über 1 Prozent der gesamtdeutschen Schülerschaft. Doch für Politiker:innen, Virolog:innen und Eltern in ganz Deutschland ist mitunter entscheidend, was dort in den kommenden Wochen passiert.

„Wir sind halt die Ersten“, sagt Martin am Telefon und lacht. „Die anderen Länder beobachten uns sehr genau.“ Diesen Montag startet in Mecklenburg-Vorpommern das neue Schuljahr, so früh wie in keinem anderen Bundesland. Geht es nach der SPD-Politikerin, soll an den Schulen nun endlich Normalität einkehren. „Wir haben schrittweise alle gesellschaftlichen Bereiche wieder geöffnet. Auch den Tourismus haben wir wieder zugelassen“, sagt Martin. „Nun stellen wir die Schüler und Eltern in den Mittelpunkt.“ In keinem Bundesland seien die Infektionszahlen niedriger. Vor den Sommerferien musste nach Kenntnis ihres Ministeriums nur eine Schule vorübergehend geschlossen werden. Für das neue Schuljahr bedeutet das: ein gelockertes Hygienekonzept. Die Schülerinnen und Schüler haben wieder Unterricht in regulärer Klassenstärke und in allen Fächern, selbst Sport und Musik sind unter Auflagen erlaubt. Einen Mund-Nasen-Schutz muss in der Schule niemand tragen, in den Klassenzimmern ist die Abstandsregel aufgehoben. „Die Schülerinnen und Schüler haben ein Recht auf Bildung“, sagt Martin. Sie sei froh, dass dieses Recht wieder eingelöst werden könne.

So ähnlich wie Schwerin stellen sich auch die anderen Landesregierungen den Schulstart vor. Bei Martins 15 Amtskolleg:innen ist die Erleichterung zu spüren, nach den Erfahrungen im Homeschooling und im Schichtbetrieb endlich wieder zum Regelunterricht zurückzukehren: „Eltern sind auf einen zuverlässigen Schulbetrieb angewiesen“, sagte die Bildungsministerin von Schleswig-Holstein, Karin Prien (CDU), das sei wesentlich für die Vereinbarkeit von Familie und Beruf. Ihr sächsischer Amtskollege Christian Piwarz (ebenfalls CDU) stellte schon vor Wochen klar, dass der Pflichtunterricht im kommenden Schuljahr „höchste Priorität“ habe. Das Recht der Kinder und Jugendlichen auf Bildung und Teilhabe dürfe nicht leichtfertig unter die Räder geraten.

Und Hamburgs Schulsenator Ties Rabe (SPD) freute sich kurz vor dem Schulstart am Donnerstag auf einen „Unterricht mit allem Drum und Dran“. Einer, der dem Schulalltag vor Corona insgesamt schon „sehr nahe“ kommen würde. Auch wenn sich die Regeln von Bundesland zu Bundesland unterscheiden (siehe Kasten), in einem sind sich die Kultusminister:innen einig: Flächendeckende Schulschließungen soll es nur im Notfall geben. „Wir wollen möglichst nicht in den Lockdown zurück“, sagt Bettina Martin gegenüber der taz. Ausschließen will ihn aber niemand mehr.

Das Robert-Koch-Institut jedenfalls hält eine zweite Welle angesichts der steigenden Corona-Infektionen für möglich – auch wegen der Urlauber:innen, die sich möglicherweise im Ausland mit Sars-CoV-2 angesteckt haben und deren Kinder das Virus vielleicht in die Schulen tragen könnten. Mehrere Bundesländer haben auf taz-Anfrage angekündigt, keine Nachsicht mit Familien zu zeigen, die den Urlaub in ein Risikogebiet ohne die 14-tägige Quarantänezeit planen – und ihre Kinder dann zum Schulbeginn zu Hause lassen. Der Verstoß werde wie Schulschwänzen geahndet, auch Bußgelder drohten, hieß es etwa aus Hamburg. Problematisch wird es nur, wenn die Urlauber die Quarantänepflicht ignorieren, denn überprüft wird das nicht. In dem Fall könnten die ersten beiden Schulwochen schon frühe Schulschließungen nach sich ziehen.

Vor allem Lehrkräfte und Eltern sorgen sich, dass der Regelunterricht ohne Abstandsregeln im Unterricht möglicherweise zu früh kommt. Lehrerverbände warnen schon seit Monaten, der Wunsch nach Normalität dürfe nicht zulasten des Gesundheitsschutzes gehen. Auch fehlt es an vielen Schulen im Land an ausreichend Toiletten, um die Hygienepläne aus den Ministerien zu erfüllen. Im Netz häufen sich unter dem Hashtag #BildungAberSicher Kommentare, die die Schulöffnungen in der geplanten Form als verantwortungslos bezeichnen.

Tatsächlich befinden sich die Kultusminister:innen in einer Zwickmühle: Schon im Juni haben sie verkündet, nach den Sommerferien zum Regelunterricht zurückzukehren. Mitte Juli erklärten sie dann die Abstandsregeln im Unterricht für überflüssig. Wie eine Umfrage der taz unter den 16 Ländern zeigt, hat sich daran auch durch das höhere Infektionsgeschehen nichts geändert. Die Länder haben mehrere Szenarien vorbereitet, abhängig vom Infektionsgeschehen. Überall gilt aber: Außerhalb der Klassenzimmer soll der Mindestabstand von 1,5 Metern eingehalten werden. Die Schulen sollen verhindern, dass sich bestimmte Gruppen – in der Regel Klassen oder ganze Jahrgangsstufen – durchmischen. In Berlin, Bayern, Baden-Württemberg, Thüringen, Niedersachsen und Rheinland-Pfalz müssen Schüler:innen im Schulgebäude neuerdings einen Mund-Nasen-Schutz tragen.

Der Schulstart Mit Ausnahme Bayerns und Baden-Württembergs haben die Bundesländer unterschiedliche Ferientermine. Für das neue Schuljahr heißt das: Am heutigen Montag startet Mecklenburg-Vorpommern als erstes Bundesland den Schulbetrieb, am Donnerstag folgt Hamburg, die Woche darauf geht es in Berlin, Brandenburg und Schleswig-Holstein los. Schlusslichter sind Anfang September Bayern und Baden-Württemberg.

Die Regeln Alle Länder gehen zum jetzigen Zeitpunkt von einem eingeschränkten Regelunterricht aus. So sollen die Abstandsregeln im Unterricht wegfallen, außerhalb des Klassenraums aber bestehen bleiben. Fest definierte Gruppen – in der Regel Klassen bzw. Jahrgangsstufen – sollen sich so nicht untereinander mischen. In manchen Bundesländern müssen die Schüler:innen im Schulhaus Maske tragen. (rpa)

Auch regelmäßige Coronatests sind Bestandteil der Strategie, zum Teil dürfen sich Lehrkräfte mehrfach testen lassen, auch ohne Symp­tome. Hamburg, Bremen und Thüringen stellt ihnen darüber hinaus auch FFP2-Schutzmasken zur Verfügung. Vom uneingeschränkten Regelbetrieb spricht niemand mehr. Allein deshalb, weil der Krankheitsstand an einigen Schulen seit Corona stark angestiegen ist und die Personalsituation verschärft. In NRW etwa hat er sich auf derzeit 15 Prozent verdoppelt. Die neue Zauberformel lautet: Regelunterricht unter Pandemiebedingungen. Doch kann der wirklich klappen?

Die Mecklenburger Lehrerin Martina Frey ist da skeptisch. Die 53-Jährige unterrichtete bis zu den Sommerferien an der Fritz-Reuter-Grundschule in Ludwigslust. Den heutigen Schulstart verpasst Frey zwar, weil sie sich gerade in einem Sabbatical befindet, dennoch fragt sie sich, ob die Vorgaben aus dem Kultusministerium in Schwerin – dem Ressort von Ministerin Martin – den Praxistest bestehen. Zwar verzeichnete das Bundesland in den vergangenen Wochen geringe Infektionszahlen, was den Unterricht in voller Klassenstärke und ohne Abstandsregeln möglich erscheinen ließ. „Aber aktuell meldet der Landkreis neue Fälle“, sagt sie.

„Das Grundgefühl ist Unsicherheit.“ Vor allem, weil die Regeln einige Fragen offen lassen: Das Ministerium hat empfohlen, Singen und Sport ins Freien zu verlagern – doch wie soll das im Winter klappen? Als „absurd“ bezeichnet Frey die Umsetzung der Nachmittagsbetreuung, zumindest an der Fritz-Reuter-Grundschule. „Da gibt es nur einen großen Raum für alle Kinder“, berichtet Frey. „Kaum vorstellbar, dass sich die Klassenstufen da nicht mischen.“

Doch möglicherweise wäre das weniger fatal als angenommen. Zumindest legt eine Studie von der TU Dresden und dem Dresdner Universitätsklinikum nahe, dass Schulen bei der Verbreitung des Virus eine untergeordnete Rolle spielen könnten. Schon im Mai, als Sachsen als erstes Bundesland zum Regelunterricht zurückkehrte, nahmen die Forscher:innen erste Proben. Ihr Zwischenergebnis nach mehr als 2.000 getesteten Personen an 13 Schulen: Der Immunisierungsgrad ist deutlich geringer als angenommen. Oder mit anderen Worten: Viel weniger Schüler:innen als erwartet hatten das Virus. „Die Schulen haben sich auch im Regelbetrieb nicht zu Hotspots entwickelt“, sagt der Co-Leiter der Studie, Jakob Armann, zur taz.

Ob das auch im Herbst so bleibt, wenn das Lüften der Räume schwieriger ist und die Grippesaison beginnt? „Schwer zu sagen“, sagt Infektiologe Armann. Durchlüften sei auf jeden Fall sehr sinnvoll. Unter welchen Bedingungen jedoch ein Durchlüften alle 45 Minuten ausreicht, um Ansteckungen zu vermeiden, und wann die Infektionsgefahr steigt, sei nicht genügend erforscht.

Womit Armann aber stark rechnet: dass wegen der saisonalen Grippewelle im Herbst deutlich mehr Schulkinder vorsorglich krankgeschrieben werden dürften, weil es bei Covid-19 ähnliche Symptome gebe. Bis dahin wäre es ratsam, umfangreiche Tests auch für Verdachtsfälle unter den Schüler:innen vorzubereiten. Andernfalls drohen wieder mehrwöchige Homeschooling-Phasen.

„Die Schülerinnen und Schüler haben ein Recht auf Bildung“

Bettina Martin, Bildungsministerin von Mecklenburg-Vorpommern

Um dieses Mal dafür besser gerüstet zu sein, haben die Bundesländer in den letzten Monaten digitale Geräte angeschafft, Serverkapazitäten ausgebaut und Lehrkräfte für den Fernunterricht fortgebildet. Die Hamburger Schulbehörde beispielsweise hat in den Sommerferien nach eigenen Angaben knapp 39.000 zusätzliche Laptops und Tablets verteilt. Somit steht einem Viertel der Hamburger Schülerschaft ein Leihgerät zur Verfügung.

Schulleiterin Yvonne Dannenberg hat die neuen Geräte bereits erhalten. Besonders glücklich ist sie damit aber nicht, erzählt sie. Und das liegt an ihrer Schülerschaft an der Ganztagsschule Vizelinstraße. „Einige der Familien, gerade die eher bildungsfernen und mit knappen Budget, haben zu Hause kein Internet“, sagt Dannenberg. „Da hilft das Gerät wenig.“ Insgesamt fühlt sie sich aber besser auf einen Lockdown vorbereitet.

Auch Mecklenburg-Vorpommern hat sich auf einen erneuten Lockdowm vorbereitet. Bildungsministerin Bettina Martin hat die Schulen an die interaktive Lernplattform „itslearning“ angebunden, auf die viele digital erfahrene Lehrkräfte schwören. Auch sollen demnächst digitale Leihgeräte für Schüler:innen angeschafft werden. Und auch der Netzausbau auf dem Land, verspricht Martin, werde sich bald verbessern.

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