Bilanzexpertin über Wirecard-Skandal: „Es gab sehr viele Warnzeichen“
Beim Wirecard-Betrug haben viele Stellen versagt. Der Schaden daraus ist Politikern nicht bewusst, glaubt Carola Rinker, Expertin für Bilanzfälschung.
taz: Frau Rinker, sollte der Wirecard-Skandal in einem Bundestagsuntersuchungsausschuss aufgearbeitet werden?
Carola Rinker: Ja. Es muss auf den Tisch kommen, was schiefgelaufen ist. Nur so ist eine sinnvolle Reform der Finanzaufsicht möglich. Wenn man jetzt Änderungen vornimmt, ohne detailliert zu wissen, was schiefgelaufen ist, können die gleichen Fehler ja wieder geschehen.
Sie sind Expertin für Bilanzfälschung: Wäre der Wirecard-Skandal zu verhindern gewesen?
Man hätte den Skandal früher aufdecken können. Bei Wirecard gab es ein Versagen an verschiedenen Stellen. Verhindern kann man Bilanzbetrug nur, wenn die Gefahr der Aufdeckung groß ist. Je früher ein Betrug wahrscheinlich aufgedeckt wird, desto geringer ist der Anreiz, es zu probieren.
Brauchen wir eine Bilanzpolizei?
Ja, aber nicht in der jetzigen Form. Der Deutschen Prüfstelle für Rechnungslegung (DPR), der jetzigen Bilanzpolizei, die im Auftrag der Finanzaufsicht Bafin Wirecard geprüft hat, hat die Bundesregierung zum Ende nächsten Jahres gekündigt. Die DPR hat weniger als 20 Mitarbeiter, also zu wenig Personal, um wie bis jetzt 550 Unternehmen zu prüfen.
Es muss eine Kontrolle geben, die mehr Handlungsspielraum hat. Bei der DPR konnten die Unternehmen freiwillig antworten, der Aufsichtsrat musste nicht einbezogen werden. So wie es bislang gelaufen ist, geht es nicht.
Zuerst hätten die Wirtschaftsprüfer von EY merken müssen, dass etwas nicht stimmt. Gab es Warnzeichen?
33, ist Unternehmensberaterin und Bilanzexpertin. Die Volkswirtin schult unter anderem Mitarbeiter des Bundeskriminalamts zum Thema Bilanzfälschung. Sie ist Mitglied der Initiative Neues Wirtschaftswunder, die sich für eine sozial-ökologische Transformation einsetzt.
Es gab sehr viele Warnzeichen, zum Beispiel Beiträge in der Financial Times mit Anhaltspunkten. Bei den Bilanzen der letzten zehn Jahre fällt auf, dass Wirecard zunehmend Liquidität hatte, andererseits sind die Gewinne gestiegen und trotzdem wurden Kredite aufgenommen. Da stellte sich die Frage: Wofür hat Wirecard das Geld gebraucht?
Bei Guthaben auf Treuhandkonten, unter anderem den verschwundenen 1,9 Milliarden Euro, hätten die Wirtschaftsprüfer mehr Nachweise einholen müssen. Die Wirtschaftsprüfer sagen, sie sind keine forensischen Experten. Aber für den Jahresabschluss 2018 hat EY angegeben, dass forensische Gutachten eingeholt wurden. Das heißt, da waren Experten dabei.
Was muss sich bei den Wirtschaftsprüfern ändern?
Ihre Haftungsprivilegien müssen abgeschafft werden, sie müssen stärker haften. In Großbritannien wurde gerade eingeführt, dass Wirtschaftsprüfer nicht gleichzeitig ein Unternehmen beraten und prüfen dürfen. In Frankreich prüfen zwei Wirtschaftsprüfer zusammen ein Unternehmen. Auf jeden Fall sollte die Rotationspflicht verkürzt werden auf einen Wechsel der Wirtschaftsprüfer alle fünf Jahre.
Finanzminister Scholz hat einen Aktionsplan für eine stärkere Finanzaufsicht und eine schärfere Kontrolle der Wirtschaftsprüfer angekündigt. Dazu gehört ein Sonderprüfungsrecht der Finanzaufsicht Bafin.
Das ist zumindest ein Schritt in die richtige Richtung. Wir brauchen definitiv für die Bafin mehr Möglichkeiten, rechtzeitig einzugreifen. Aber es muss erst einmal eine Untersuchung geben, was in der Vergangenheit alles falsch gelaufen ist.
Ist der Aktionsplan weitreichend genug?
Nein. Ich kann mir vorstellen, dass in der Politik noch nicht überall durchgedrungen ist, was der Skandal bedeutet. Es gibt ein großes Interesse internationaler Medien, die sich fragen, warum da keine Behörde eingegriffen hat und wie ein Unternehmen wie Wirecard überhaupt in den DAX kommen konnte. Wir müssen jetzt dafür sorgen, dass das Vertrauen in den deutschen Kapitalmarkt wiedergewonnen wird.
Die Finanzaufsicht in Deutschland ist Anfang des Jahrtausends von der rot-grünen Regierung umfassend reformiert worden. Wurde damals zu viel dereguliert?
Ja, das ist das eine. Das andere ist die Struktur. Der Anlass für die Gründung der DPR waren Bilanzskandale, unter anderem der um Flowtex, einen Hersteller von Horizontalbohrmaschinen. Jetzt hat sich gezeigt, dass mit der Gründung der DPR das Problem nicht gelöst wurde.
Viele Führungskräfte bei der Bafin kommen aus der Finanzwelt. Ist die Nähe zur Branche ein Problem?
Da stellt sich die Frage, wie unvoreingenommen jemand agiert und ob noch Kontakte bestehen, sodass gewisse Interessen verfolgt werden. Man könnte sagen, man braucht jemanden, der einen gewissen Einblick in die Branche und Erfahrung hat, um die Komplexität verstehen zu können. Die Frage ist, wie man es schafft, jemanden mit Erfahrung zu finden, der keine eigenen Interessen verfolgt. Ich glaube, das ist ein Problem, über das man auch in einem Untersuchungsausschuss sprechen sollte.
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