Sexueller Missbrauch von Kindern: Fremdgesteuerte Symbolpolitik

Eine Anhebung der Mindeststrafen für Kindesmissbrauch schützt Kinder nicht unbedingt besser. Die Justizministerin gibt dem Druck der „Bild“ nach.

Ein von der Polizei abgesperrter Tatort.

Der Fall, der die Debatte um Strafen neu entfachte: Gartenlaube des Tatverdächtigen von Münster Foto: David Inderlied/Kirchner-Media/imago

Sexueller Missbrauch soll künftig generell als Verbrechen eingestuft werden. Das hat Justizministerin Christine Lambrecht (SPD) jetzt in einem Eckpunkte-Paket voller Strafverschärfungen vorgeschlagen. Wie so oft im Strafrecht handelt es sich dabei um Symbolpolitik – diesmal allerdings um fremdgesteuerte Symbolpolitik, denn die Ministerin läuft vor allem den Forderungen der Bild-Zeitung hinterher.

Die aktuelle Debatte begann, nachdem in NRW ein neues Missbrauchs-Netzwerk aufgedeckt wurde, dessen Zentrum in Münster lag. Die Diskussion hat aber erstaunlich wenig mit ihrem Anlass zu tun.

Für alle Täter, die an diesem Netzwerk beteiligt sind und eigene oder fremde Kinder massiv missbraucht haben, wird es langjährige Haftstrafen geben. Es gibt hier also keine Laxheit und schon gar keine Lücken im Strafrecht.

Stattdessen hat die Bild-Zeitung Anfang Juni eine Diskussion um die Mindeststrafen für sexuellen Missbrauch begonnen. Sexueller Missbrauch von Kindern solle mit einer Mindeststrafe von einem Jahr Gefängnis bestraft werden. Die Tat wäre dann ein „Verbrechen“. Es wäre zum Beispiel keine Einstellung gegen Geldauflage mehr möglich und auch keine Ahndung per Strafbefehl. Für die Aufarbeitung von Taten wie in Münster ist das aber irrelevant, denn dort geht es sicher nicht um Strafen an der unteren Grenze des Strafrahmens.

Auch Helfer- und Opfer-Verbände und nicht zuletzt die CDU/CSU vertreten die Verbrechens-Forderung und wurden von Bild täglich neu in Stellung gebracht: Natürlich müsse sexueller Missbrauch ein Verbrechen sein. Es klang, als ob es hier um die Frage gehe, ob sexueller Missbrauch überhaupt strafbar sein soll. Das ist aber nicht der Punkt. Es geht nur um die Frage, ob für jede Form des Missbrauchs die Mindeststrafe bei einem Jahr liegen soll. Wenn auch Strafen unter einem Jahr möglich sind, gilt das Delikt in unserem Strafrechtssystem als „Vergehen“.

Sinnvoll wäre, dass die Bundesländer den Jugendämtern und der Polizei für die Aufdeckung solcher Taten mehr Personal zur Verfügung stellen

Zum Vergleich: Auch die Körperverletzung ist ein Vergehen. Es gibt leichte Körperverletzungen, wie Ohrfeigen, und es gibt schwere Körperletzungen, bei den denen das Opfer am Ende gelähmt oder blind bleibt. Deshalb sind bei Körperverletzungen milde Strafen ebenso möglich wie langjährige Haftstrafen.

Ein ähnliches Delikt war bisher der sexuelle Missbrauch. Auch hier gibt es extrem brutale Delikte, die hart bestraft werden müssen, aber es gibt eben auch leichtere Formen, etwa wenn Kinder immer wieder scheinbar zufällig an den Genitalien oder am Hintern berührt werden.

Die Forderung, dass sexueller Missbrauch immer mit mindestens einem Jahr Freiheitsstrafe bestraft werden muss, ist nicht neu. Doch in den letzten zwei bis drei Jahrzehnten haben dies alle Justizministerinnen (es waren fast nur Frauen) abgelehnt – eben weil der sexuelle Missbrauch ein Delikt mit sehr unterschiedlichen Erscheinungsformen ist.

Christine Lambrecht, die jetzige Amtsinhaberin, ist schon nach fünf Tagen Trommelfeuer seitens der Bild-Zeitung Mitte Juni umgefallen und hat ihre Fahne in den Wind gedreht. Mit dem jetzt vorgelegten Paket an Vorschlägen übernimmt sie die Vorschläge der Bild-Zeitung in weitem Umfang. Bild-Chefredakteur Julian Reichelt hat dies in einem Kommentar auch mit großer Genugtuung festgestellt.

In der Praxis ist damit sicher kein besserer Schutz vor sexuellem Missbrauch verbunden. Jede Strafrechts-Expertin weiß, dass die Höhe der Strafdrohung weit weniger wichtig ist, als die Wahrscheinlichkeit, ertappt zu werden. Dies gilt natürlich auch für die Anhebung der Mindeststrafe. Sinnvoll wäre dagegen, dass die Bundesländer den Jugendämtern und der Polizei für die Aufdeckung solcher Taten mehr Personal zur Verfügung stellen und dieses besser ausbilden.

Zu befürchten ist sogar, dass Lambrechts Verschärfungen kontraproduktiv sind, weil es im Gesetz keine angemessene Strafdrohung mehr gäbe. Es könnte dann etwa sein, dass Kinder lieber auf eine Aussage gegen ihren Onkel, Trainer oder Lehrer verzichten, weil sie nicht wollen, dass gleich dessen Existenz (zum Beispiel als Beamter) bedroht ist. Es könnte auch sein, dass die Staatsanwaltschaft angesichts der hohen Strafdrohung schon geringste Widersprüche in den Aussagen der Kinder zum Anlass nimmt, das Verfahren wegen nicht ausreichendem Tatverdacht einzustellen.

Es ist wie oft mit populistischen Forderungen. Sie zielen vor allem auf Emotionen und sind nicht an Differenzierung interessiert. Dass manche Medien so agieren, ist bekannt. Aber von einer Justizministerin der SPD hätte man mehr rechtspolitische Standfestigkeit erwarten können.

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Geboren 1965, Studium in Berlin und Freiburg, promovierter Jurist, Mitglied der Justizpressekonferenz Karlsruhe seit 1996 (zZt Vorstandsmitglied), Veröffentlichung: „Der Schiedsrichterstaat. Die Macht des Bundesverfassungsgerichts“ (2013).

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