Auf dem Elbe-Radweg von Prag bis Dresden: Eintauchen in die böhmische Kultur

Erst nach der Wende wurde der touristische Wert der Böhmischen Schweiz und des Elbtals entdeckt. Sechs Tage dauert üblicherweise die Radtour.

Ein Ort der Widersprüche: Hoch über der Elbe das Schloss von Děčín Foto: Heiko Meyer/laif

Es ist eine immer wieder überraschende Frage, in welches Meer die Moldau mündet. Vor allem von Westdeutschen gibt es da oft verwegene Antworten, vielleicht ein Zeichen dafür, wie unbekannt vielen unser Nachbarland Tschechien doch immer noch ist – abgesehen von dem Dauerfaszinosum Prag. Auch dreißig Jahre nach der „samtenen Revolution“ sind uns Böhmen und Mähren weiterhin böhmische Dörfer.

Zumindest sprachlich hat das seine Gründe. Schon deutsche Namen wie Tetschen, Herrnskretschen, oder Leitmeritz sind für den Durchschnittsdeutschen etwas sperrig. Dass germanische Zungen mit deren tschechischen Namen Děčín, Hřensko, Litoměřice Schwierigkeiten haben, hat schon den Habsburgern diese Orte nicht eben vertrauter gemacht: böhmische Dörfer eben. Wohl deshalb behielt die Elbe, obwohl sie eigentlich der kürzere und kleinere Zufluss der Moldau ist, ab dem Zusammenfluss nördlich von Prag ihren Namen. Die Moldau mündet also hinter Hamburg in die Nordsee.

Will man böhmische Dörfer und Städtchen kennenlernen, ist man bei Vitek Procházka in den besten Händen. Der fröhliche Prager mit dem dunklen Vollbart und dem breiten Lachen ist so etwas wie die samtene Elb-Revolution auf Rädern. Mit seinen „Europe Bike Tours“ bietet Vitek seit sieben Jahren Radtouren durch die gesamte Tschechische Republik an. Eine der spannendsten Touren ist dabei sicher der Elbe-Radweg von Prag bis Dresden.

Die Strecke ist in den vergangen Jahren ausgebaut worden. Überall gibt es angenehme Hotels, und die Restaurant- und Kneipenszene auf dem Weg ist verführerisch. Üblicherweise dauert die Tour sechs Tage. Man kann sie natürlich auch in Abschnitten und auf eigene Faust machen. Allerdings empfiehlt es sich sehr, gelegentlich lokale FührerInnen zu nehmen. Mit den Einheimischen zusammen bekommt man nämlich das erhebende Gefühl, eine historische Region zu besuchen, die sich selbst gerade erst wiederentdeckt. Dass der (Rad-)Tourismus in Nordböhmen bei dieser Wiederentdeckung helfen kann, macht ihn besonders wertvoll: Ökologisches Reisen als Beitrag zu regionaler Entwicklung samt aktiver Völkerverständigung und praktizierter Erinnerungskultur: das klingt wie ein ausgeklügeltes EU-Projekt (was es zu Teilen auch ist).

Zwei Personen mit Rädern un deiner Landkarte.

Auf dem Elberadweg in Hrensko Foto: Bernd Jonkermanns/laif

Sven Czastka, auch er mit Vollbart, dazu noch langen blonden Haaren, und sein Děčín zum Beispiel: eine hübsche kleine Stadt, das „Tor zum Elbsandsteingebirge“, das wir am Nachmittag mit Vitek durchfahren haben. Canyonartige graue Felswände, grüne Hügel, kleine Dampfer, die dem schlängelnden Fluss folgen. Eine Loreley-Gegend auf böhmisch. In Děčín dann ein beeindruckendes altes Schloss hoch über der Elbe mit einem barocken Pferdestall – alles aufwendig renoviert. Geschichte, wohin man blickt. Hier ist Sven vor 40 Jahren geboren, hier ist er aufgewachsen.

Bevölkerung umgesiedelt

Den Vornamen hat er von seinem deutschstämmigen Vater. Zu Hause aber war Deutsch verpönt – obwohl der Vater als Dolmetscher arbeitete. Die Mutter war nach dem Krieg aus Mähren nach Děčín gekommen, umgesiedelt wie so viele aus der damaligen Tschechoslowakei. 90 Prozent der Bevölkerung sind in den sogenannten Sudeten ausgetauscht worden. Etwa 3,6 Millionen Deutsche wurden vertrieben.

600 Jahre lang waren sie – vor allem in die gebirgigen Gegenden rund um das flache Zentralböhmen – eingewandert, oft gerufen von den böhmischen Königen. Die Verbrechen in der Nazizeit nach dem Anschluss des Sudetenlandes und des Protektorats Böhmen und Mähren führten dann nach dem Krieg zur Vertreibung: sieben Jahre, die eine Tradition von Jahrhunderten zerstörten. Der tschechische Sozialismus hatte kein Interesse, an diese Tradition anzuknüpfen.

Erst nach der Wende habe man langsam den touristischen Wert der Böhmischen Schweiz und des Elbtals entdeckt

Sven spricht offen über das schwierige Verhältnis der jetzigen Bewohner zu ihrer Region. „In meiner Kindheit kannten wir die Umgebung hier gar nicht, wir sind nicht rausgefahren, wir haben im Garten Tomaten gepflanzt.“ Erst nach der Wende habe man langsam den touristischen Wert der Böhmischen Schweiz und des Elbtals entdeckt. Es dauerte zwei Generationen, bis aus den Zugewanderten so etwas wie „Indigene“ wurden. Die ehemaligen waren ja weg.

Vor ein paar Jahren gründete Sven die Firma Active Point Děčín. Die verleiht nicht nur Räder, sondern auch „Downhill Klickscooter“ und sie bietet geführte Kletter-, Kanu- und Raftingtouren an. Erst jetzt sei er in seiner Region wirklich angekommen. Und erst vor Kurzem habe ein progressiver Bürgermeister entdeckt, wie gut dieses Gebiet – in alten Zeiten mal ein Luftkurort – touristisch zu nutzen ist.

Allgemeine Infos zum Tourismus in Tschechien: www.czechtourism.com

Infos zur Region Böhmen: www.branadocech.cz/de

Fahrradtouren in und nach Tschechien: www.europe-bike-tours.eu

Infos zu Děčín: www.active-point.cz

Lesetipp: Ein guter Reiseführer ist im Trescher Verlag erschienen: „Tschechien“, 488 Seiten mit vielen Fotos, Stadtplänen und Übersichtskarten, 2020, 19,95 Euro

In Leitmeritz, viele malerische Elbwindungen stromaufwärts, ist die Geschichte noch weitaus präsenter. Auch hier, jenseits der Porta Bohemica, die das Sandsteingebirge von dem vulkanischen böhmischen Basaltmittelgebirge trennt, steht eine perfekt renovierte Burg, deren Ursprünge auf das 13. Jahrhundert zurückgehen und die heute auch als Kongresszentrum dient.

„Bilderbuch der Baustile“

Die Stadt verfügt – neben einigen sehenswerten Kirchen – über einen riesigen Marktplatz, der als „Bilderbuch der Baustile“ bezeichnet wird: Darunter ein gotisches (altes) Rathaus und das heutige Grandhotel „Salva“, in dem 1566 schon ein Ferdinand III. residierte, weshalb es sich als eines der „ersten mitteleuropäischen“ Hotels preist.

Mit den architektonischen Leckerbissen ist das Eintauchen in die böhmische Kultur aber noch nicht zu Ende. Am Abend führt uns Vitek zu einer Bierverkostung in die kleine Brauerei St. Stephanus. Neben den diversen Biergeschmäckern schmeichelt dabei auch das Essen dem Gaumen.

Es sind nur ein paar Minuten auf dem Fahrrad von Leitmeritz nach Terezín. Der deutsche Name, Theresienstadt, gehört immer noch zu jenen Worten, die für Terror und Grauen stehen. Dass Theresienstadt der Ort des Ghettos und des KZs ist, will die Stadt auch gar nicht vertuschen. 1991 wurde ein Ghettomuseum in der ehemaligen Schule eröffnet.

Seit 2001 dokumentiert dort eine gut gemachte Ausstellung die Rolle, die Theresienstadt bei der „Endlösung der Judenfrage“ spielte, seit Ende 1941 hier das Ghetto eingerichtet wurde. 35.000 Menschen kamen in Theresienstadt um, 83.000 wurden von hier in die Vernichtungslager deportiert. Weniger als 4.000 haben die Befreiung erlebt.

Die Wende brachte die Abwanderung

Betritt man den großen Hauptplatz der ehemaligen Festungsstadt, beschleicht einen ein merkwürdiges Gefühl der Verlassenheit. Die Stadt steht leer. Nur knapp 2.000 Einwohner leben heute in der alten Garnisonsstadt, in der sich zur schlimmsten Zeit des Ghettos bis zu 58.500 Menschen drängten. Auch nach dem Krieg, als Terezín wieder vor allem Militär beherbergte, hatte die Stadt bis zu 9.000 Einwohner. Nicht das traurige Erbe der Ghettozeit hat Terezín entvölkert, sondern die Wende – der Abzug der Russen und des Militärs. Es gab einfach keine Jobs mehr.

Seitdem bemüht sich die Stadt um eine zivile Perspektive. Der Tourismus soll dabei eine wichtige Rolle spielen. Dabei geht es natürlich auch um den „dark tourism“ der Ghetto-Geschichte – aber eben nicht nur. Darüber, wohin es mit Terezín gehen soll, kann am besten der junge Historiker Jiří Hoffmann Auskunft geben, der auch Chef des Tourismusbüros ist. Jiřís Studienobjekt ist die riesige Festung, die Joseph II. zwischen 1780 und 1790 errichtete. Sie sollte Prag gegen die Preußen Friedrichs II. sichern. Zu Ehren seiner Mama Maria Theresia nannte Joseph die Festungsanlage „Theresienstadt“.

Nicht ohne Stolz führt uns Jiří durch die endlosen unterirdischen Gänge und Kasematten, die in den letzten Jahren restauriert wurden. „Insgesamt 34 Kilometer“, raunt er uns zu. Oben, auf einem der Wälle, schauen wir auf die tiefen Gräben, die rund um die Festung ausgehoben wurden, um sie im Notfall mit Wasser aus der Eger zu fluten. Über Wiesen und Felder blicken wir bis Leitmeritz und zur Elbe. Militärisch wurde There­sienstadt übrigens nie angegriffen. Gegen die Nazis half die riesige Festung nicht – im Gegenteil: Sie diente ihnen als KZ.

Widersprüchliches Erbe

Was die Nazis aus der Anlage gemacht haben, ist in der „Kleinen Festung“ zu besichtigen. Ursprünglich als Wachtposten gedacht, wurde dieses äußere Bollwerk schon bald zu einem Militärzuchthaus. Seit Mitte des 19. Jahrhunderts saßen hier auch politische Gefangene aus dem ganzen Habsburgerreich – so etwa auch Gavrilo Princip, der Attentäter von Sarajevo. Wer heute die Kleine Festung besucht, bekommt die schwer erträgliche Innenansicht eines Gestapo-Gefängnisses. 27.000 Männer und 5.000 Frauen saßen hier unter katastrophalen Bedingungen. 2.500 fielen den Krankheiten, der Sklavenarbeit in den Stollen von Leitmeritz, den Folterungen und Hinrichtungen zum Opfer.

Jiří weiß auch um diese Geschichte. Er träumt davon, dass das widersprüchliche Erbe der Stadt sie zu einem Zentrum eines historisch bewussten Tourismus machten könnte – nun, da die Militärs, die Henker und die Unterdrücker endlich weg sind. Vielleicht könnte aus der Festung Theresienstadt ja ein Bollwerk gegen jede Art von Geschichtsvergessenheit werden.

Die Europäische Union jedenfalls will dabei helfen. Allerdings sollen die Tschechen ein Viertel der veranschlagten 260 Millionen Euro selbst aufbringen. Jiří ist optimistisch: 260.000 Besucher kamen letztes Jahr. Tendenz steigend! Und schließlich gibt es ja auch noch die Radfahrer vom Elbe-Radweg.

Die Reise wurde von der tschechischen Zentrale für Tourismus unterstützt.

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