„Es gab keine privaten Feiern“

Die Stadt Göttingen machte private Feste zum Fastenbrechen für die mindestens 120 Neuinfektionen verantwortlich. Betroffene Familien weisen diese Darstellung nun zurück

Teststation in der Tiefgarage des Iduna-Zentrum in Göttingen Foto: Swen Pförtner/dpa

Aus Göttingen Reimar Paul

Sind, wie es die Stadtverwaltung darstellt, muslimische „Großfamilien“, die Ausgangspunkt für den Corona-Ausbruch in Göttingen gewesen? Oder war alles doch ganz anders? Erklärungen der Bewohner wecken zumindest Zweifel an der offiziellen Version.

In der Universitätsstadt haben sich in den vergangenen zwei Wochen mindestens 120 Menschen mit dem Coronavirus infiziert. Der seit Tagen von der Stadtverwaltung und dem örtlichen Krisenstab verbreiteten und von vielen Medien nacherzählten Geschichte zufolge waren private Feste im Wohnkomplex Iduna-Zentrum am 23. und 24. Mai anlässlich des Fastenbrechens Ausgangspunkt der Ansteckungen. In den kleinen Appartements hätten sich zum Teil bis zu 30 Personen aufgehalten, hieß es.

Bei den unter Verdacht gestellten „Großfamilien“ handelt es sich um miteinander verwandte Roma aus dem Kosovo und anderen Regionen des ehemaligen Jugoslawien. Viele von ihnen flüchteten vor dem Bürgerkrieg in ihrer Heimat oder den Schikanen der neuen Regierungen nach Deutschland. Ihr Aufenthaltsstatus ist zum Teil ungesichert, manche werden von den Behörden lediglich geduldet. Infolge der Berichte über ihr vermeintliches Fehlverhalten in der Coronakrise sind die „arabisch-albanischen Clans“ (Bild-Zeitung) Opfer von teils wüster Hetze, die vor allem über die „sozialen Netzwerke“ verbreitet wird. „Asylbetrüger raus!“, ist dabei noch eine der eher zurückhaltenden Parolen.

„Die Anfeindungen meiner Familie bewegen sich im strafrechtlichen Bereich“, schreibt dazu jetzt ein betroffener Vater bei Facebook. In einer mit „Gegendarstellung“ überschriebenen Erklärung betont der Mann, der seinen Namen nicht angibt, dass es anlässlich des Zuckerfests im Iduna-Zentrum gar keine privaten Feiern gegeben habe. Zusammengekommen seien „mehrere Personen“ lediglich in der nahe gelegenen Moschee. Bei dieser vom städtischen Ordnungsamt genehmigten Veranstaltung seien „sämtliche Abstands- und Hygieneregeln eingehalten“ worden.

Auch sei der „wahrscheinliche Patient null“ nicht „Bestandteil unserer Familie“, es handele sich vielmehr um einen Bewohner des Iduna-Zentrums mit anderer Nationalität. Das Nichteinhalten von Hygiene- und Quarantäneregeln anderer Personen dürfe deshalb „nicht uns angelastet werden“. Zu den weiteren Ansteckungen im Haus, die nicht nur, aber auch Mitglieder der Roma-Familien betreffen, könne es leicht durch Schwebeteilchen in den Fluren und Treppenhäusern des Iduna-Zentrums gekommen sein.

Auch Berichte über Familienmitglieder, die nicht zu Corona-Tests erschienen seien, sind aus Sicht des Schreibers „nicht nachvollziehbar“: „Tatsache ist, dass mehrere Familienmitglieder von Teststationen weggeschickt wurden mit dem Hinweis, dass sie symptomfrei seien.“

„Die Anfeindungen bewegen sich im strafrechtlichen Bereich“

Betroffener Vater

Jetzt hat sich das Roma-Antidiskriminierungs-Netzwerk zu Wort gemeldet – ebenfalls mit der Aussage, dass im Iduna-Zentrum gar keine Feierlichkeiten stattgefunden hätten. Als erster Bewohner des Iduna-Zentrums sei ein Mann an Corona erkrankt, der nicht zu den in den Medien beschuldigten „Großfamilien“ gehöre. Er habe mehrfach gegen Quarantäne-Auflagen verstoßen.

Andere Bewohner, darunter die nun kriminalisierten Familien, hätten das Gesundheitsamt mehrfach darauf hingewiesen, dass der Infizierte sich nicht an die Quarantäne hielt, die Behörde habe darauf jedoch zunächst nicht reagiert. „Die Stadt schiebt nun ihr eigenes Versagen auf die Bewohnerinnen“, beklagt das Roma-Netzwerk. Zu keinem Zeitpunkt sei versucht worden, zusammen mit den Betroffenen nach Lösungen zu suchen. Dies wäre ein besserer Weg gewesen, statt „einseitig über die Menschen zu sprechen“.

Unterdessen warnt die Gesellschaft für bedrohte Völker vor einem Generalverdacht, dass sich Roma nicht an Corona-Auflagen halten. Es komme darauf an, den Infizierten und den Verdachtsfällen den Ernst der Lage bewusst zu machen – gegebenenfalls in ihrer Muttersprache, sagte die Südosteuropa-Referentin der in Göttingen ansässigen Menschenrechtsorganisation, Jasna Causevic, der Hessischen-Niedersächsischen Allgemeinen. Die Betroffenen müssten die Gefahren eines unüberlegten Verhaltens erkennen. Wer in Deutschland lebe, habe Rechte, aber auch Pflichten: „Wir müssen uns alle schützen und offenbar auch manche Menschen vor sich selbst, aber ohne Stigmatisierung und Vorurteile.“