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Ein Virus spaltet das Land

Brasilien ist mittlerweile nach den USA das am stärksten vom Coronavirus betroffene Land. Es tötet nicht nur viele, es legt auch offen, wie sehr die Menschen unter ihrer politischen Führung leiden

Eine Aktivistin stellt ein Holzkreuz am Copacabana-Strand auf, um an die Toten der Pandemie zu erinnern Foto: Leo Correa/ap

Aus São Paulo Niklas Franzen

Es war ein stiller Protest, der am Donnerstagmorgen am weltbekannten Copacabana-Strand von Rio de Janeiro stattfand: Mitarbeiter*innen der NGO Rio de Paz hoben einhundert symbolische Gräber aus und hämmerten Kreuze in den Sand. Auf einem Schild hieß es: „Brasil, país das covas“ – Brasilien, Land der Gräber. Die NGO wollte mit der Aktion der Tausenden Toten gedenken, die an Covid-19 gestorben sind. Gleichzeitig wollte sie aber auch gegen den Coronakurs der Regierung protestieren.

Während am Copacabana-Strand ein symbolisches Begräbnis stattfand, heben in vielen anderen Orten Brasiliens Bagger Massengräber aus. Brasilien ist derzeit der weltweite Corona-Hotspot: Das Land hat bereits die zweitmeisten Infizierten und mehr als 40.000 Tote wegen Covid-19. In den letzten Tagen sind so viele Menschen gestorben wie nirgendwo sonst. Bald ein an dem Coronavirus Gestorbener pro Minute. Brasiliens trauriger Rekord.

Das Land steuert auf den Höhepunkt der Pandemie zu, steckt gleichzeitig aber auch in einer handfesten politischen Krise. Noch immer gibt es keinen neuen Gesundheitsminister, zwei Gesundheitsminister mussten während der Pandemie bereits zurücktreten. Der Grund waren Meinungsverschiedenheiten mit Präsident Jair Bolsonaro.

Ein Gesundheitsminister musste gehen, weil er die Empfehlungen der WHO befolgen wollte. Ein anderer, weil er sich gegen den Einsatz eines vermutlich gesundheitsschädlichen Medikaments aussprach.

Der Interims-Gesundheitsminister ist ein General und hat keine Erfahrung im Gesundheitsbereich. Zuletzt sorgte sein Ministerium für Empörung, weil es die Gesamtzahl der Coronatoten nicht mehr veröffentlicht hatte, sondern nur noch die Zahl der vergangenen 24 Stunden. Außerdem wurde die Veröffentlichung nach hinten geschoben, damit sie nicht in den allabendlichen Nachrichten erscheint.

Daten, die die Entwicklung der vergangenen Monate aufzeigten, wurden sogar ganz aus dem Netz entfernt. „Die kumulativen Daten spiegeln nicht wider, wo sich das Land gerade befindet“, erklärte Präsident Bolsonaro auf Twitter. Doch wieder einmal blockte das Oberste Gericht ein Vorhaben der Regierung und verfügte, alle Daten über die Virusinfektion wieder zur Verfügung zu stellen.

Bolsonaro ging noch weiter. Ähnlich wie US-Präsident Donald Trump droht er, aus der Weltgesundheitsorganisation auszusteigen. Die WHO verhalte sich wie eine „politische Organisation“.

Bolsonaro, der Corona als „kleine Grippe“ herunterspielt, würde am liebsten alle Isolationsmaßnahmen aufheben, die von den Landesregierungen beschlossen wurden.

Zu Beginn der Pandemie kam das öffentliche Leben in Brasilien fast vollständig zum Erliegen: Geschäfte und Schulen wurden geschlossen, Konzerte verboten, Parks und Strände abgeriegelt. Die meisten Städte entschieden sich jedoch gegen einen kompletten Lockdown, die Polizei geht kaum gegen Menschenansammlungen vor. Und vor allem arme Menschen sind weiterhin auf den öffentlichen Nahverkehr angewiesen.

Während am Anfang viele Menschen zu Hause blieben, ist die Isolationsrate in den letzten Wochen abgerutscht. Allerdings: Experten und Expertinnen vermuten, dass die Lage viel schlimmer wäre, hätte es keinerlei Isolationsmaßnahmen gegeben und wären die Forderungen von Bolsonaro umgesetzt worden.

Lange Zeit hatten sich die Gouverneure geweigert, Lockerungen zuzulassen. Doch um einen kompletten Einbruch der Wirtschaft zu verhindern, wurden nun in einigen Städten die ersten erlaubt. In Rio de Janeiro machten Einkaufszentren ihre Tore wieder auf, jedoch mit strikten Richtlinien wie Fiebermessen am Eingang, begrenzten Einkaufsflächen und reduzierten Öffnungszeiten.

So durften auch in São Paulo viele Geschäfte am Donnerstag wieder öffnen. In der Innenstadt waren daraufhin die Straßen voll mit Fußgänger*innen, Autos stauten sich und Menschen quetschten sich in volle Busse.

Es fühlte sich zeitweise so an, als hätte die Megametropole das Virus überwunden. Doch die Stadt ist landesweit am stärksten von der Pandemie betroffen und hat in den letzten Tagen neue Rekordwerte der Covid-19-Toten vermeldet.

Die Rua 25 de Março ist eine wuselige Einkaufstraße mit Ramschläden und Kaufhäusern mit chinesischen Waren im Zentrum von São Paulo. Am Donnerstag, dem Tag der zaghaften Lockerung, drängen sich Tausende Menschen auf der Straße. Vor Geschäften, die nur eine begrenzte Anzahl an Kund*innen hereinlassen, bilden sich lange Schlangen. Fliegende Händler und Händlerinnen preisen lauthals ihre Ware an; da ist Rufen und Schreien: „Wasser, Wasser, ein Real.“ „Sonnenbrillen, Flip-Flops, Unterwäsche – wir haben alles.“

An einer Ecke steht Luiz Fernando, 49, blaues Fußballtrikot, eine große Pappe mit Fotos von gefälschten Sneakern in der Hand. Für ein Geschäft wirbt er auf der Straße um Kunden und Kundinnen.

In den letzten drei Monaten sei die Straße komplett leer gewesen, sagt Fernando. Nur über das Internet hätte der Laden ein bisschen Ware verkauft. Doch auch jetzt laufe das Geschäft schlecht. „Niemand kauft etwas“, sagt Fernando. „Die Leute sind hier, weil etwas los ist, und bummeln nur.“ Es scheint, als sei vielen Brasilianer*innen das Risiko der Infektion immer noch nicht bewusst.

„Ich habe kein Geld mehr und weiß nicht, was ich machen soll“

A. Damasceno, Fitnessstudiobesitzer

Expert*innen kritisieren die Lockerungen scharf. „Das Risiko ist sehr hoch und es gibt keine Anzeichen dafür, dass die Wiedereröffnungen kontrollierbar sind“, sagte der Virologe André Ribas Freitas der linken Zeitung Brasil de Fato.„In Europa wurde gelockert, weil die Zahl der Infizierten sank. Hier steigen die Infektionszahlen aber weiterhin rasant. Wir sollten erst lockern, wenn ein konstanter Rückgang verzeichnet wird.“ Bisher sieht es aber nicht nach einer Entspannung aus – im Gegenteil. Laut der WHO steht dem Land das Schlimmste noch bevor.

Umfragen zeigen, dass die meisten Menschen in Brasilien die Isolationsmaßnahmen unterstützen, das Virus ernst nehmen und Bolsonaros Kurs kritisch sehen. Allerdings genießt der Präsident trotzdem eine stabile Zustimmung von rund 30 Prozent der Bevölkerung. Und seine radikalsten Fans demonstrieren Woche für Woche gegen die Quarantänemaßnahmen.

Aber auch bei anderen Menschen wächst die Kritik am Stillstand. Am Mittwochabend protestierten in São Paulo rund 200 Menschen vor dem Gebäude des Stadtrats. Sé Augusto Dama­sceno ist einer von ihnen. Auffallend muskulöse Oberarme hat der 39-Jährige. Er ist Besitzer eines Fitnessstudios im Süden der Stadt. Seit drei Monaten ist sein Studio geschlossen. „Es ist dramatisch für uns“, sagt Damasceno. „Ich habe kein Geld mehr und weiß nicht, was ich machen soll.“ Hilfsleistungen von der Regierung habe er nicht erhalten. Damasceno sei weder Fan von Bolsonaro noch des Gouverneurs von São Paulo: Seine Kritik richtet sich an Landes- und Bundesregierung.

Laut Damasceno sei es möglich, auch im Fitnessstudio Abstand zu halten und Masken zu tragen. „Außerdem denke ich, dass Fitnessstudios wichtig für die Gesundheit der Menschen sind und alleine deshalb schon wieder öffnen sollten.“

Für Menschen wie Damasceno, die keine Ersparnisse haben und nicht von zu Hause aus arbeiten können, ist das Virus ein finanzielles Drama. Doch auch für die, die wieder arbeiten können, ist Corona ein Dilemma: Entweder sie bleiben ohne Lohn zu Hause oder sie gehen arbeiten und setzen sich damit dem Risiko einer Infektion aus. Viele Menschen entscheiden sich für das Risiko.

Die Aktion am Copacabana-Strand endet, als Unterstützer*innen Bolsonaros auftauchen. Videos zeigen, wie ein Mann in sportlicher Kleidung die Kreuze niederreißt und über Linke schimpft. Ein anderer Mann, der seinen Sohn durch Covid-19 verlor, stapft daraufhin durch den Sand, stellt die Kreuze wieder auf und brüllte mit brüchiger Stimme: „Respektiert unseren Schmerz.“

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