Verfahren gegen ehemaligen KZ-Wachmann: „Gejagt und erschossen“
Im Verfahren gegen den ehemaligen KZ-Wachmann Bruno D. sagen Überlebende aus. Das Vergegenwärtigen der Greultaten fällt keinem der Zeugen leicht.
Aus Lautsprechern ist am Mittwochvormittag die Stimme von Ackermann zu hören. Die Stimme des fast 90-Jährigen klingt kräftig. Aus einem Dorf bei Tel Aviv ist er zugeschaltet. Es ist nicht die erste Videoschalte in diesem Verfahren, um die hochbetagten Überlebenden sprechen zu lassen.
„Ich war nur noch ein Viertel Mensch“, sagte Ackermann. Bei seiner Befreiung vor 75 Jahren wog er 25 Kilo. In den letzten Apriltagen 1945 brachte die SS ihn mit weiteren 350 Menschen vom KZ Stutthof über die Ostsee mit einen Binnenschiffboot an die Küste in Schleswig-Holstein. Eine Todesfahrt. Durch die Enge starben Tag und Nacht Menschen. „Ich hatte Glück“, berichtet Ackermann. Er und ein Freund hätten eine Art Bohrmaschinenvorrichtung gefunden, in die sie und ein weiter Mithäftling schlüpfen konnten und so mehr Platz hatten.
„Gab es Trinken und Essen?“, fragt die Vorsitzende Richterin Anne Meier-Göring nach. „Nein, nichts.“ Meerwasser habe er getrunken. Kurz vor der Küste wären sie beinahe gestorben und hatten wieder Glück, sagt Ackermann. Mit seinem Freund habe er gerade gestanden, als ein SS-Offizier Menschen, die saßen oder lagen, mit Genickschüssen hinrichtete. Sechs oder sieben in seiner Nähe, „kaltblütig“, sagt Ackermann. Und erzählt weiter, dass die SS auf dem Weg nach Neustadt alle hundert Meter die letzte Reihe der Häftlinge ins Wasser gejagt und erschossen habe. „Sie wollten unsere Zahl verringern“, sagt er.
Leichen auf Haufen
Dieses Ziel sollte auch das KZ Stutthof erfüllen. Mit 14 Jahren war Ackermann in das Lager gekommen, mit seinen Eltern und seiner Schwester. Die Eltern überlebten nicht. Für ihn ist klar: Jeder Wachmann wusste was geschah. „Die Wachleute“, sagte er bei einer ersten Aussage, „waren auf ihren Türmen höchstens 40 oder 50 Meter entfernt. Sie konnten wie wir die Leichen sehen, wie sie sich angehäuft haben, jeden Tag.“
In dem Verfahren sprach Marek Dunin-Wasowicz als einer der ersten Überlebenden des KZ Stutthof mit nüchternen Worten über die menschenverachtenden Zustände. Auch er sagte: Jeder habe gewusst, dass sie in dem Lager nahe Danzig sterben sollten. „Der Weg zur Freiheit führt durch den Schornstein“, sagte Dunin-Wasowicz, der aus einer polnischen Widerstandsfamilie kommt. Seit dem 17. Oktober läuft die Verhandlung, Ackermann und Dunin-Wasowicz gehören zu den fünf Überlebenden der 41 Nebenkläger*innen, die noch in der Lage sind auszusagen. Sie eint, nur noch „Nummern gewesen zu sein“, wie sie aussagten.
Am 18. Verhandlungstag betonte Henri Zajdenwegier diese Entwürdigung nicht bloß erneut. Der jüdische Rentner schilderte seine Angst vor den alltäglich stattfindenden Misshandlungen. Die Wachmänner hätten mehr „Respekt vor den Tieren“ gehabt „als vor uns“, sagte der 92-Jährige. Aus Paris war zur Unterstützung ihres Freundes auch die Journalistin Beate Klarsfeld angereist. Seit Jahrzehnten verfolgt sie Nazi-Verbrecher.
Am 17. Tag der Verhandlung berichtete Rosa Bloch ebenfalls, dass in Stutthof „das Ziel war, unsere Zahl zu verkleinern“. Vor Ort habe sie die Gaskammer gesehen. „Wir wusste alles“, sagte die 89-Jährige aus Israel. Auch weil die Männer des Sonderkommandos, das die Leichen zu den Öfen brachte, diese Information über die Zäune ins Lager riefen. „Gerade die Wachleute konnten uns auf der Stelle töten, das war normal“, sagte sie aus. Ihre Mutter hatte sie bei der Registrierung zwei Jahre älter gemacht, sodass sie nicht gleich nach Auschwitz weiter deportiert wurde. Bloch sagte: „Dem Angeklagten werde ich nie verzeihen. Ich will, dass er eine Strafe bekommt.“
Erinnern ist Pflicht
Per Videoschaltung wurde am 16. Verhandlungstag Halina Strnad aus Melbourne zugeschaltet. Die 92-Jährige schilderte Erhängungen und Selbstmorde der Eingesperrten, die in den elektrischen Zaum liefen. „Wir wurden Untermenschen genannt und sahen wie Untermenschen aus“, sagte sie und berichtete, dass eine Frau ein fünf Monate altes Baby tot gebar. Mit einer Glasscherbe trennten sie die Nabelschnur durch, die Frau starb am Blutverlust. Das tote Baby versenkte Strnad in der Latrine. „Ein paar Tage später schwamm der Körper des Babys oben auf. Dieses Bild habe ich in meinen Albträumen jahrelang gesehen.“
Das Erzählen, das Erinnern, keinem der Zeugen fiel das leicht: wieder hervorzurufen, was zum Selbstschutz verdrängt, verschüttet war. Im Saal 300 war nicht alleine Meier-Göring sichtlich berührt. Geschichte und Geschichten wurden Menschen und Menschenleben. Strnad legte dar, warum sie aussagte: „Im Lager haben wir gesagt: ,Wenn wir überleben – so fing dort jeder Satz an –, müssen wir Zeugnis ablegen, bis wir sterben.' Es ist eine Pflicht“.
Die Aussagen offenbaren, was der Angeklagte alles nicht wahrgenommen hatte, nicht erinnern oder nicht sagen will. Im Juli soll ein Urteil fallen.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Selbstzerstörung der FDP
Die Luft wird jetzt auch für Lindner dünn
Stellenabbau bei Thyssenkrupp
Kommen jetzt die stahlharten Zeiten?
BSW in Koalitionen
Bald an der Macht – aber mit Risiko
Stellungnahme im Bundestag vorgelegt
Rechtsexperten stützen AfD-Verbotsantrag
Dieter Bohlen als CDU-Berater
Cheri, Cheri Friedrich
Kinderbetreuung in der DDR
„Alle haben funktioniert“