piwik no script img

Forcierte Artikulation mit Plosivlauten

Das Chorleben in Berlin und anderswo ist derzeit eingeschlafen oder verödet über Zoom. Doch es gibt Hoffnung: Neue Studien liefern mittlerweile genauere Daten über die Ansteckungsgefahr beim Singen

Ob Berlin oder BaWü, Chöre haben überall ein Problem: Rainer Homburg, künstlerischer Leiter der Stuttgarter Hymnus-­Chorknaben, spricht während einer Chorprobe per Video­konferenz mit seinen Chorknaben Foto: Sebastian Gollnow/dpa

Von Katharina Granzin

Wie oft ist das Chorsingen nicht schon als soo gesund gepriesen worden! Es stärkt die Lunge und den Kreislauf, verbessert zudem – bei manchen Menschen jedenfalls – die Haltung und könnte somit Rückenproblemen vorbeugen. Auch der sozialen Integration ist der gemeinsame Gesang förderlich und macht nicht zuletzt den Sänger und die Sängerin zu aktiven TeilnehmerInnen des Kulturlebens, an dem mensch sonst eher in konsumierender Rolle partizipiert. Kurz: Chorgesang ist eine rundum gute und nützliche Sache.

Und jetzt das. Mit Ausbruch der Coronakrise sind die Singenden dieser Welt plötzlich zu potenziellen Virenschleudern geworden. Normales Chorleben wird mittelfristig nicht zu erwarten sein. Die meisten Chöre „proben“ in einer Besser-als-nichts-Haltung über die Onlinekonferenzplattform Zoom, was eigentlich gar nicht geht, denn die zeitliche Latenz verhindert jedes gemeinsame Musizieren. So steht mensch allein zu Hause vor dem Laptop, dessen Mikro auf stumm geschaltet ist, und tönt einsam vor sich hin. Das ist nicht jedermanns Sache, und viele machen es gar nicht erst mit. „Ich jaul doch nicht den Nachbarn was vor!“, sagt Freundin A. entsetzt, die ersten Sopran singt und oft sehr hohe Töne treffen muss.

Vor wenigen Wochen ging durch die Presse, dass sich bei einer Probe der Berliner Domkantorei, die Anfang März stattgefunden hatte, über sechzig von achtzig Anwesenden mit Sars-CoV-2 infiziert hatten – angesteckt von wohl einem einzigen Chormitglied, das zu jenem Zeitpunkt noch symptomfrei war. Mittlerweile sind alle wieder gesund.

Ernstere Folgen dagegen hatte eine Probe des Skagit Valley Chorale im US-Bundesstaat Washington. Von den 61 Chormitgliedern, die am 10. März zum Singen zusammengekommen waren, erkrankten 53. Drei mussten ins Krankenhaus (alle sollen Vorerkrankungen gehabt haben); zwei von ihnen starben. In der Los Angeles Times, die am 29. März über den Fall berichtete, ist bereits die Rede davon, dass nun vermehrt über Infektionsgefahr durch Aerosole geforscht werde. Die WHO, steht auch in dem Artikel, spiele die Gefahr durch Aerosole aber eher herunter.

Inzwischen ist man allgemein doch etwas weiter. Das macht Hoffnung. Denn solange die VirologInnen bei der Einschätzung der realen Ansteckungsgefahren im Nebel der Vermutungen stochern, werden Empfehlungen von wissenschaftlicher Seite immer zu größtmöglicher Vorsicht tendieren. Und es ist wohl so, dass man bisher eben zu wenig wusste – auch weil es immer Wichtigeres gab. In einem Papier, das die Berliner Charité am 4. Mai veröffentlichte, heißt es: „Fragestellungen zur Verteilung von Tröpfchen und Aerosolen beim Singen mit Abschätzung der Übertragungsgefahr von Viruserkrankungen wurden bislang wissenschaftlich kaum thematisiert und rücken jetzt aufgrund der gravierenden Auswirkungen der aktuellen Pandemie in den Forschungsfokus.“ Und aus dem Forschungsfokus heraus kommen allmählich durchaus mehr als tröpfchenweise Informationen. Das heißt konkret: Die empfohlenen Abstände verringern sich. Das Charité-Papier etwa (das sich noch vorbehielt, Singen im Ensemble „weiter kritisch zu beurteilen“), hielt Einzelgesangsunterricht für möglich, wenn „mindestens 3 Meter“ Abstand zwischen den Personen sowie weitere Vorsichtsmaßnahmen eingehalten würden.

Chorsingen stärkt die Lunge und den Kreislauf, verbessert zudem die Haltung. Chorgesang ist eine rundum gute und nützliche Sache

Keine drei Wochen später ist das Schnee von gestern. Deutlich weiter geht ein neueres, ausführliches Papier vom Universitätsklinikum Freiburg, das am 19. Mai zuletzt aktualisiert wurde. Unter anderem ist dort durch Versuche bestätigt gefunden worden, „dass vor der Mundöffnung des Singenden keine wesentliche zusätzliche Luftbewegung entsteht“. Genauer: „Bei einer forcierten Artikulation mit Plosivlauten waren leichte Verwirbelungen im Nahbereich zu beobachten. Bei der Messung der Luftgeschwindigkeit [...] im Abstand von 2 Metern vom Singenden konnte jedoch keine Luftbewegung gemessen werden. Somit kann dieser Abstand von 2 Metern als Sicherheitsabstand für die Tröpfcheninfektion auch bei forcierter Artikulation angesehen werden.“ Die FreiburgerInnen korrigieren sich damit sogar selbst: „Aufgrund der neuesten Messergebnisse erscheint es nicht notwendig, den Abstand mit 3 bis 5 Metern überzuerfüllen, wie wir es in der ersten Risikoabschätzung vom 25. 04. 2020 noch formuliert hatten.“ Das Einhalten des 2-Meter-Abstands sollte durch weitere Maßnahmen (Kleingruppen, Lüften, kürzere Probendauer, Gesichtsschutz, Fiebermessen) begleitet werden.

Das alles ist wohl ein Hoffnungsschimmer, aber noch kein Grund zum Jubeln. Auch wenn die Politik ein Einsehen hat und Ensemblesingen unter Auflagen erlauben sollte, dürfte es für die meisten Chöre räumlich sehr schwierig werden. Denn auch wenn das Singen an sich wegen geringer Verwirbelung kein besonderes Problem darstellt, sind Zusammenkünfte von Menschen doch generell weiter problematisch, wie die Ansteckungsfälle bei Chören und in Kirchen zeigten.

Speziell für die Sommersaison geben die FreiburgerInnen aber zu bedenken, dass „das Musizieren im Freien besonders attraktiv“ sei: „Es existiert hier eine lange Kulturtradition, man denke nur an das antike Amphitheater. Der Begriff Chor bezeichnete ursprünglich den Tanzplatz eines Amphitheaters, in dem auch gesungen wurde.“ Nur das Lärmemissionsschutzgesetz müsste vielleicht etwas angepasst werden, falls jetzt alle Berliner Chöre in die Parks ziehen.

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen