„Das kann gar nicht klappen“

In Brandenburg haben seit vergangener Woche auch Förderschulen wieder geöffnet. Sonderpädagoge Michael Küster erzählt,
wie schwierig Abstandsregeln für seine Schüler:innen sind – und warum ihn die Vorgaben des Ministeriums so ärgern

Abstand halten? Für bestimmte Schülerinnen und Schüler ist das schwer bis unmöglich Foto: Michael Schick/imago

Interview Ralf Pauli

taz: Herr Küster, seit vergangener Woche sind die Schulen in Brandenburg unter strengen Hygieneauflagen wieder geöffnet. Selbst für Regelschulen ist das eine Riesenherausforderung. Wie ist es an einer Förderschule?

Michael Küster: Ziemlich schwer. Wir sind eine Förderschule mit dem Schwerpunkt „geistige Entwicklung“. Unser Spektrum an Schülerinnen und Schülern reicht von schwer beeinträchtigten Kindern und Jugendlichen, die nicht sprechen können und deren aktuelle Bedürfnislage man kaum erraten kann, über Kinder mit autistischen Zügen, Kindern mit Downsyndrom bis zu jungen Menschen mit leichten, für Sie kaum wahrnehmbaren kognitiven Beeinträchtigungen. Viele unserer Schüler können nicht still auf dem Platz sitzenbleiben, laufen ständig umher oder berühren andere. Ein großer Anteil unserer Schüler bedarf der Unterstützung beim Essen oder bei der Pflege. Sie können sich nun also ein Bild unserer Schülerschaft machen. Das Ministerium schreibt aber dennoch auch für unsere Schulform klar vor: 1,5 Meter Abstand zu jeder Phase des Unterrichts.

Klappt das?

Ehrlich gesagt, kann das gar nicht klappen. Ich habe Ihnen unsere Schülerschaft beschrieben – wie sollen wir da alle Hygienemaßnamen einhalten? Eine Schülerin etwa möchte mich und meine Kollegin immer wieder umarmen. Das gehört einfach zu ihr dazu. Und ihr fällt es schwer, mit Ablehnung umzugehen. Andere Fälle sind aber noch extremer. Ein jüngerer Schüler aus der Nachbarklasse zum Beispiel nimmt immer alles in den Mund.

Und dennoch mussten Sie die Schule öffnen. Wie lief die vergangene Woche?

Zunächst habe ich mich sehr gefreut, meine Schüler wiederzusehen. Vor dem Unterricht haben wir die Gruppentische in unserem Klassenzimmer durch Einzeltische ausgetauscht und mit dem Zollstock die Abstände überprüft. Das Land Brandenburg hat ja die Vorgabe gemacht, dass jeder Schüler einen festen Arbeitsplatz hat und diesen nicht wechseln darf. An unserer Schule ist es üblich, dass eine Klasse zwei Räume hat und auch vom Personal doppelt besetzt ist. Anders könnten wir nicht auf die so unterschiedlichen Bedürfnisse und Lernniveaus eingehen. Dass wir die Klassen sowieso oft teilen, hilft uns natürlich jetzt. Aber selbst wenn wie vergangene Woche nur drei Schüler da sind, wird es fast zu eng im Klassenraum, der deutlich kleiner ist als in Regelschulen. Das Ministerium erlaubt Schülergruppen von vier bis acht Schülern. Das ist bei uns ein normaler Klassenverband.

Das heißt, Sie müssten alle Schü­ler:­innen aufnehmen, wenn die Eltern das möchten?

In der Handlungsempfehlung des Ministeriums sind die Bestimmungen sehr unklar. Die Schulleitung hat beschlossen, zunächst nur maximal vier Schüler pro Klasse aufzunehmen. Die, die kommen, tragen, wenn sie es können und möchten, einen Mundschutz. Wir Lehrer sind verpflichtet, Mundschutz zu tragen, weil wir davon ausgehen, dass der nötige Abstand nicht aufrechterhalten werden kann. Überhaupt mussten wir uns ganz genau überlegen, wie wir wirklich die Hygieneregeln des Ministeriums einhalten können. So haben wir beispielsweise für jeden Schüler einen eigenen Locher, Schere und Kleber in sein Fach gelegt. Auch die Essensausgabe in den Klassenräumen erfolgt nach strengen Auflagen. Dennoch können wir nicht garantieren, dass wir alle Hygieneregeln einhalten.

Was möchten die Eltern?

Bei den Eltern gibt es natürlich seit Wochen einen sehr großen Leidensdruck. Als es hieß, ab 4. Mai sind auch die Förderschulen offen, haben sich viele bei uns erkundigt. Viele der Kinder fordern rund um die Uhr ihre Aufmerksamkeit. Home­of­fice ist unter diesen Umständen eigentlich gar nicht möglich. Dazu kommt, dass es für unsere Kinder auch extrem wichtig ist, eine Struktur zu haben. Für autistische Schüler beispielsweise sind feste Abläufe und Rituale besonders wichtig. All das war über Wochen unterbrochen. Für die Eltern und Kinder ist es deshalb gut und wichtig, dass es nun wieder weitergeht.

Aber?

Das Problem ist, dass wir davon ausgehen können, dass viele unserer Schüler zur Risikogruppe gehören. Von Herzfehler bis Einschränkungen der Lunge haben wir so ziemlich alles an unserer Schule. Hinzu kommt, dass viele unserer Schüler in Heimen wohnen und betreut werden. Und dort ist die Angst vor einem Coronafall und anschließender Quarantäne natürlich auch da. Ein Heim hat angekündigt, bis zum Sommer keine Kinder mehr zu schicken. Und eine Mutter wollte ihr Kind erst wieder bringen, hat nun aber zurückgezogen. Das Risiko ist ihr einfach zu hoch.

Halten Sie die Öffnung von Förderschulen für unverantwortlich?

Zeitplan In den meisten Bundesländern öffnen Förderschulen analog zu den weiterführenden Schulen: zunächst für die Abschlussklassen, später für weitere Jahrgangsstufen. In Niedersachsen, Sachsen-Anhalt Berlin oder Schleswig-Holstein ist der Fahrplan den Schulen weitgehend selbst überlassen.

Ausnahmen In Rheinland-Pfalz bleiben Förderschulen mit dem Schwerpunkt „Ganzheitliche Entwicklung und motorische Entwicklung“ geschlossen, in Sachsen Schulen mit dem Schwerpunkt „Geistige Entwicklung“. NRW prüft derzeit, ob der Unterricht an allen Förderschulen wieder aufgenommen werden kann. In Thüringen ist die Öffnung der Förderschulen derzeit nicht vorgesehen.

Hygienevorschriften In den meisten Bundesländern gelten in Förderschulen dieselben Hygieneregeln wie an den übrigen Schularten. In manchen gibt es aber abweichende Vorgaben bei der maximalen Schülergruppengröße. In Bayern liegt sie bei neun, in Brandenburg bei 4 bis 8. Hessen schreibt vor, dass Förderschüler:innen, die die Hygienevorschriften nicht einhalten können, dem Unterricht fernbleiben müssen. (taz)

Ich bin da zwiegespalten. Es ist, glaube ich, der Punkt gekommen, wo man wieder starten muss. Der Leidensdruck ist, wie gesagt, sehr hoch. Und viele unserer Schüler kann ich mit Homeschooling gar nicht erreichen. Vor allem kann ich die Eltern damit nicht wirklich entlasten. Dass was passieren muss, sehe ich auch. Was mich persönlich aber ärgert, ist, dass das Ministerium so tut, als könnten wir die Hygieneregeln wie andere Schulformen einhalten. Dass das bei unseren Schülerinnen und Schülern mit den Abstandsregeln nicht funktionieren kann, darauf wird in keiner Weise eingegangen. Und darin sehe ich für unsere Schulleitung eine große Belastung, allein rechtlich.

Wie könnte man den Förderschulen in der jetzigen Situation helfen?

Es würde schon helfen, wenn das Ministerium einräumt: An Förderschulen sind die Hygieneregeln kaum einzuhalten. So wie man auch bei Kindergärten gesagt hat: Die bleiben so lange in einer Notbetreuung, bis ein Konzept vorliegt. Wir haben nun wieder geöffnet, ohne dass das Ministerium auch nur Hinweise für ein Konzept für unsere Schulform vorgelegt hat.

Angenommen, nächste Woche wollen alle Eltern ihre Kinder an die Schule geben: Was machen Sie?

Momentan sieht es nicht danach aus, wir haben sehr verständnisvolle Eltern. Aber diese Woche habe ich zumindest in meiner Klasse schon mal mit dem Schichtbetrieb begonnen, weil zwei Schüler dazugekommen sind. Wie das aber aussieht, wenn die ganze Schule Schichtbetrieb anbietet, kann ich Ihnen nicht sagen.

Michael Küster, 48, ist Förderschullehrer in Brandenburg. Auf seinen Wunsch wurde sein Name geändert und die Schule bleibt anonym.