Ralf Leonhard über Österreichs Öffnungen in der Coronapolitik
: Wörther See statt Ibiza

Die Österreicher werden demnächst wieder beim Heurigen sitzen und mit haushaltsfremden Personen ihren Wein schlürfen dürfen. Auch Demonstrieren soll an weniger Auflagen geknüpft werden als derzeit noch. Das, was Kanzler Sebastian Kurz (ÖVP) die „neue Normalität“ nennt, kommt früher als in den meisten anderen von Covid-19 befallenen Staaten. Die „neue Normalität“ trägt allerdings Maske und endet mit einer generellen Sperrstunde um 23 Uhr. Sie bedeutet Urlaub am Wörther See statt auf Kreta, Ibiza oder den Malediven. Aber immerhin: das Jammertal der strengen Ausgangsbeschränkungen, der geschlossenen Schulen und Gasthäuser, Möbelhäuser und Autosalons ist demnächst durchschritten.

Man mag darüber streiten, ob es die in 700 Jahren Habsburgerherrschaft eingeübte Untertanenmentalität, die Vernunft und Disziplin der Bevölkerung oder die Einschüchterung durch des Kanzlers Angstparolen ist, die zum Erfolg der Corona-Eindämmung beigetragen hat. Das jüngst bekannt gewordene Protokoll einer Krisensitzung vom März enthüllt, dass Kurz offenbar gezielt auf Einschüchterung setzte: Am Ende der Krise werde jede und jeder jemanden kennen, der am Coronavirus gestorben ist. Oder: „Das ist die Ruhe vor dem Sturm!“ Was immer man von dieser Taktik halten mag: sie funktioniert. Nicht zuletzt dank des Gegengewichts, das der besonnene grüne Gesundheitsminister Rudi Anschober verkörpert. Er gibt auf Fragen vernünftige Antworten und er ist imstande, eigene Fehler zu korrigieren.

Und der Öffnungsplan für die kommenden Monate ist ein brauchbarer Kompromiss zwischen den Interessen der ungeduldigen Wirtschaft, des Staates, der nicht endlos sein Füllhorn über Arbeitslose und bankrottreife Betriebe ausschütten kann, und der Vorsicht, die Epidemiologinnen und Virologen einfordern. Und schließlich ist jeder Lockerungsschritt mit einer Notbremse versehen, die angezogen werden kann, wenn nach zwei Wochen der R-Faktor wieder in die falsche Richtung zeigt.

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