Aus der Zeit in die Freiheit gefallen

Die Bremer Folkband „Die Grenzgänger“ nähert sich Hölderlin mit den Mitteln des Pop und holt den Dichter damit ins Hier und Jetzt

Sehnsuchtsort: Bordeaux in den Jahren nach 1800, gemalt von Pierre Lacour. Hölderlin verbrachte dort einige Monate als Hauslehrer eines reichen Hamburger Weinhändlers Foto: Wikimedia commons

Von Jan-Paul Koopmann

Dass Musik in den Gedichten von Friedrich Hölderlin steckt, ist noch nicht die Überraschung. Schon von Johannes Brahms bis zu Hanns Eisler wurde Hölderlin vertont – und damit ging’s erst richtig los: Gerade die zweite Hälfte des 20. Jahrhunderts hat unzählige musikalische Hölderlin-Interpretationen hervorgebracht.

Und trotzdem hat Michael Zachcial von der Bremer Folkband „Die Grenzgänger“ ganz sicher recht, wenn er von seiner soeben erschienenen Platte „Hölderlin“ als einem Stück „Neuland“ spricht. Ganz bescheiden sagt er das, auf Nachfrage, wie man denn umgegangen sei mit all den bereits vorliegenden Vertonungen des Hölderlin’schen Spätwerks. Natürlich hatten sich Die Grenzgänger dort umgehört, aber überrascht war man dann doch: weil es zwar Hunderte gibt, aber eben fast nur E-Musik. „Pop, Folk, Jazz gibt es kaum zu Hölderlin-Texten.“

Seit inzwischen gut 30 Jahren bringen Die Grenzgänger Folk auf die Bühne, den sie beinahe ebenso lang mit Rock, Blues und Zutaten aus anderen Sparten der Popmusik nachwürzen. Sie haben sich freigespielt aus der krampfhaft melancholischen und selbst im Witz noch todernsten linken Liedermacherei der 70er- und 80er-Jahre. „Hölderlin“ ist das elfte Album der Grenzgänger und es wirkt, als habe man das lang einstudierte Konzept hier noch mal auf die Spitze treiben wollen.

Song für Song mischen sich neue Einflüsse in die Folk-Grundstimmung und zugleich in Hölderlins Sprache. Manchmal folgt das der Atmosphäre, dann wieder zielt’s auf Reibung. In „Zornige Sehnsucht“ klingt unerwartet ein Funk-Riff an, es gibt auch Bläser mit Schmackes, sogar einen Rap-Versuch mit Augenzwinkern. Es mag ein lustiger Zufall oder auch Absicht sein, dass ausgerechnet Hölderlins Schiller-Seitenhieb „An die klugen Ratgeber“ am bruchlosesten die Wader-Wecker-Fraktion bedient – und damit die eben längst nicht abgehakte, sondern auch im Guten weiter wegbegleitende Vorgeschichte der Grenzgänger.

Einige der Texte stammen eins zu eins von Hölderlin, bei anderen handelt es sich um vorsichtige Nachkompositionen aus verschiedenen Fassungen des Dichters. „Wir waren bemüht, das sorgfältig zu machen“, sagt Michael Zachcial – wozu auch die gründliche Dokumentation im Booklet der CD zählt. „Geschrieben im Januar 1788“, steht dort etwa neben „Die Ehrsucht“ – „Um zwei Strophen gekürzt und mit der letzten Strophe als Refrain“. Und schon wird Pop draus.

Nein, ganz so einfach ist es natürlich nicht. Und es täte den Grenzgängern und ihrem „Hölderlin“ auch großes Unrecht, sie auf so eine technische Transformation herunterzubrechen. Tatsächlich klingt die Platte eher nach einem neugierigen Suchen. Für Hölderlins Gedicht „Rousseau“ etwa, das vom Warten und dem Ringen mit der Zeit handelt, haben die Grenzgänger aus dem Geräusch einer tickenden Uhr eine musikalische Landschaft entwickelt, wie Michael Zachcial erläutert. Sonderbar treibend und zeitlos schön verknüpft sich das akustisches Motiv mit dem Inhalt: „Wie eng begrenzt ist unsere Tageszeit. / Du warst und sahst und stauntest, schon Abend ists, / Nun schlafe, wo unendlich ferne / Ziehen vorüber der Völker Jahre.“

Dass solche doppelnden und deutenden Interpretationen auch ausgesprochen politisch ausfallen können, ist in „Hyperions Schicksalslied“ zu hören, einem der wohl berühmtesten Texte Hölderlins. Das Gedicht handelt vom himmlischen Treiben-Lassen und menschlich-irdischem Elend – ein klaffender Widerspruch, den musikalisch übrigens auch Brahms schon in Rhythmik und Dynamik seiner Vertonung übersetzt hatte. Bei den Grenzgängern wird sich im Himmel nun Tom-Waits-mäßig heiser gehaucht, entrückt und in dezenter Ironie, während wir Erdenklöße dann plötzlich unvermittelt losstampfen. „Doch uns ist ge-ge-ben“, heißt es so überbetont und zackig, dass man beinahe den doofen Geier Sturzflug mit seinem „Eins kann uns keiner“ darin entdecken mag. Das ist nicht nur lustig, sondern rückt den Text auch musikalisch weg vom Himmelreich und hin zum sozialen Wir, das ja so viel wichtiger ist.

Das große Verdienst dieser Platte ist der Balanceakt zwischen ehrlichem Interesse an der Geschichtlichkeit dieser mehr als 200 Jahre alten Dichtung und ihrer Bedeutung fürs Hier und Jetzt. Geschenkt, dass Hölderlins Isolation im Turm heute unangenehm frische Assoziationen an Kontaktverbot und Ausgangssperre weckt – ein paar Wochen früher hätte an gleicher Stelle wohl gestanden, was Michael Zachcial zu Recht über „Der Wanderer“ sagt: dass der Text „stellenweise wie ein Kommentar zur Klimakrise wirkt.“

Dabei geht es nicht um Prophetie oder anderen Hokuspokus, sondern um die so schlichte wie wunderbare Erkenntnis, dass Hölderlins Sprache komplexe seelische Zustände zu erfassen vermag, die andere Ereignisse auszulösen vermögen. Es ist jedenfalls spannend und auch außerordentlich hörenswert, dass und wie so etwas quer durch den Pop funktioniert: der denkbar gegenwärtigsten Musik in einer Klammer aus der Zeit in die Freiheit gefallenen Folks.

Die Grenzgänger: Hölderlin (Müller-Lüdenscheidt-Verlag/Broken Silence)