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Menschen zweiter Klasse

Die Arbeits- und Wohnverhältnisse vieler in der Fleischindustrie sind ohnehin übel. Das rächt sich in der Coronakrise umso mehr. Für die Arbeiter bedeuten die Bedingungen, dass sie einem hohen Ansteckungsrisiko ausgesetzt sind. Jetzt schicken die ersten Landkreise Kontrolleure los

„Viele Unterkünfte sind gesundheits­gefährdend, und die Leute sitzen daextrem eng aufeinander“

Peter Kossen, Pfarrer und Gründer des Vereins „Aktion Würde und Gerechtigkeit“

Von Harff-Peter Schönherr

Wer im Supermarkt zur Frischfleischpackung greift, kennt das: Es steht die Haltungsform drauf, von 1 bis 4, von „Stallhaltung“ bis „Premium“. Fast 90 Prozent des Frischfleischs der großen Lebensmittelhändler stammt aus Haltungsform 1. Wie schlecht das Leben des Tiers war, interessiert die meisten Konsumenten also nicht. Wie schlecht die Bedingungen vieler Beschäftigter in den Großschlachterei sind, meistens kommen sie aus Rumänien und Ungarn, Bulgarien und Polen, Moldawien und der Ukraine, interessiert sie noch weniger.

Dabei sind Bedingungen vieler Leiharbeiter aus Ost- und Südosteuropa in der Fleischindustrie Nordwestdeutschlands schlecht und darum sind sie jetzt in der Coronakrise einem sehr hohen Ansteckungsrisiko ausgesetzt. „Viele Unterkünfte sind gesundheits­gefährdend, und die Leute sitzen da extrem eng aufeinander“, sagt Peter Kossen. Anfang 2019 hat der Pfarrer aus Lengerich den Verein „Aktion Würde und Gerechtigkeit“ gegründet, kostenlose Rechtshilfe für Leiharbeiter in der Fleischindustrie inklusive. Kossen warnt vor „massenhafter Ansteckung mit zahlreichen schweren und auch tödlichen Verläufen“. Die Sorge scheint auch angesichts der großen Anzahl Arbeiter nicht unbegründet. Allein für Niedersachsen rechnet die Gewerkschaft Nahrung-Genuss-Gaststätten (NGG) mit rund 9.000 solcher ausländischen Beschäftigten, für Hamburg und Schleswig-Holstein mit rund 3.300.

Die Wohnungen, in denen die Personaldienstleister ihre Mitarbeiter am Ende ihrer Zwölf-Stunden-Schichten „abladen“, wie Kossen das nennt, seien oft baufällig, überbelegt, von Schimmel befallen. „Pro Pritsche im Mehrbettzimmer werden da ab 250 Euro pro Monat verlangt“, sagt Kossen. „Die Leute sind ausgelaugt, krank, teils stark geschwächt, können sich nicht regenerieren, es kommt zu vorzeitigen Alterungsprozessen.“ Der sich ausbreitende Coronavirus macht es nun noch schlimmer.

„Zu viele Menschen müssen in zu kleinen Wohnungen leben“, sagt auch Thomas Bernhard, Referats­leiter bei der NGG und Experte für die Fleischwirtschaft. Das Anstellen zum Waschen, Duschen, Toilettengang reduziere „das Niveau der persönlichen Hygiene“. Damit steige die Gefahr, „Krankheitserreger nicht ausreichend eindämmen zu können“. Durch Corona werde „die Unzumutbarkeit zur Gefahr für die Gesellschaft“, sagt Bernhard.

Der Landkreis Vechta und weitere niedersächsische Kreise haben nun am Montag damit begonnen, die Sammelunterkünfte von Werkvertrags- und Leiharbeitern und die Unternehmen zu kontrollieren. Wie der NDR berichtet werden Mitarbeiter etwa vom Gesundheitsamt und aus dem Baubereich geschickt. Weil die Arbeiter, die unter anderem in der Schlachtindustrie und der Landwirtschaft arbeiten, wegen sprachlicher Schwierigkeiten oft schlecht informiert seien und teils in prekären Wohnverhältnissen lebten, seien sie für eine Ansteckung mit dem Coronavirus besonders gefährdet, sagte Vechtas Landrat Herbert Winkel (CDU) dem NDR. Nach Ansicht des Landkreises müssten Unternehmen, die solche Arbeiter beschäftigen oder unterbringen, ihnen die aktuellen Auflagen wegen der Coronapandemie erklären und ihnen ausreichende Möglichkeiten geben, etwa auf Abstand zu achten. Die Kontrollen sollen dies demnach sicherstellen.

In der Vergangenheit sei es bereits zu „kleineren Seuchenausbrüchen“ bei Beschäftigten in der Fleischwirtschaft gekommen, etwa Tuberkulose. „Für das Coronavirus scheint das Risiko um ein Vielfaches höher“, sagt Bernhard. Auch beispielsweise bei der Arbeit am Zerlegeband sei das Ansteckungsrisiko für die Arbeiter hoch. „Arbeit in der Fleischindustrie heißt, Schulter an Schulter zu arbeiten. Abstände von 1,5 bis 2 Metern zum nächsten Arbeiter sind unvorstellbar“, sagt Bernhard. Hinzu komme, dass „die Mitarbeiter nicht an festen Arbeitsplätzen eingesetzt werden. Sie werden zu den jeweiligen Hotspots der Belastung geschickt“.

Wer jetzt heimreist, dem garantiert sein Arbeitsvertrag, dass er nach Deutschland zurückkommen darf – auch wenn es nur ein Werkvertrag ist. Aber die Fleischindustrie, stets knapp an Personal, versuche, so sagt es Bernhard, „alle ausländischen Mitarbeiter in Deutschland zu halten“, aktuell werden Kollegen „mit Sonderschichten an Heimfahrten gehindert“.

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