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„Weiter“ von Thomas JonigkZukunft, irgendwie

Ein Treffen von zwei leidenden Seelen während der Endzeitstimmung zu Tschernobyl-Zeiten: „Weiter“, der neue Roman von Thomas Jonigk.

Kann für Endzeitstimmung sorgen: elektronische Zeitmessung, das Gefühl der Überwachung Foto: dpa

Das Jahr 1986 ist für Robert gleichbedeutend mit der Endzeit. Die Technifizierung des Alltags durch Anrufbeantworter, Elektrowecker und Privatfernsehen, der Kalte Krieg und Ronald Reagan, Aids und Waldsterben sowieso – überall sieht Robert Vorboten des Untergangs, auch im über Berlin aufziehenden Sturm, der sicher sauren Regen bringen wird. „Wenn das, was Sie sagen, wahr ist“, sagt Veronika, „löst Tschernobyl doch jede Menge Probleme.“ Denn dann müsse man sich um die anderen Krisen keine Sorgen mehr machen. „Im Grunde doch gar nicht so übel, so ein atomares Massensterben“, konstatiert sie.

Ein pessimistischer Fatalist und eine pragmatische Fatalistin sitzen also zusammen und unterhalten sich über das Leben. Das ist alles, was in ­Thomas ­Jonigks fünftem Roman „Weiter“ passiert. Es ist ein Buch, dem man die Theaterbiografie des Autors (unter anderem ist er Hausautor und Dramaturg am Schauspielhaus Zürich und in Düsseldorf) anmerkt. Die Einschübe des Erzählers wirken wie Regieanweisungen. Zitate aus der Bibel bis „Hase und Igel“ heben das Kammerspiel zwischen Veronika und Robert auf diverse Metaebenen.

Jeder Dialog ist ein Schlagabtausch, jede Emotion wird in wenigen Worten präzise vorgeführt. Das Setting ist minimalistisch: Veronika und Robert, die aber, behauptet zumindest der Erzähler, auch anders heißen und andere Leben führen könnten, treffen sich in einem Café in Berlin zu einem Zeitpunkt, zu dem ihrer beider Vergangenheit so übermächtig geworden ist, dass es ihnen schwerfällt, sich so etwas wie eine Zukunft überhaupt vorzustellen.

Missbrauch, Misshandlung, Midlifecrisis

Angefangen bei der Geburt, wühlt man sich als Leser*in gemeinsam mit den beiden durch die belastenden Details aus Veronikas Biografie: Missbrauch durch den Vater, Misshandlung durch die Mutter, die Einsamkeit der unschön Pubertierenden, die Verlorenheit der jungen Frau in der Großstadt. Nur scheinbar distanziert werden diese qualvollen Lebensstationen beschrieben. Einschübe deuten aber immer wieder an, dass die Erzählerin Veronika sein könnte.

Am Cafétisch der Gegenwart angekommen, bekommt Robert seine therapeutische Erzählung. Sie ist unmittelbarer, weil in direkter Rede wiedergegeben, aber auch weil seine Vergangenheit deutlich näher ist. Robert spricht von der Trennung von seinem langjährigen Partner, der sich eine Midlife­crisis und einen jüngeren Partner zugelegt hat.

Der Roman

Thomas Jonigk: „Weiter“. Droschl Verlag, Graz 2020, 200 Seiten, 20 Euro.

Dann wagen Robert und Veronika einen ­gemeinsamen Blick in die Zukunft: Romantik, Reihenhaus, Resignation. Oder, wie Veronika es formuliert: „­Menstruation, Menopause, mausetot.“ Dem stellt Jonigk den ewigen Konjunktiv des Erzählens gegenüber. Nie kann man sicher sein, was gerade wirklich passiert. Es hätte eben immer auch ganz anders sein können. Und könnte es immer noch sein. Welche Entscheidungsmacht haben Veronika und Robert über ihr Schicksal? Haben sie sich überhaupt je für etwas entschieden, oder sind sie nur willenlose Produkte ihrer Vergangenheit? Und welcher?

Quälend langsam schälen Veronika und Robert sich aus ihrer Vergangenheit und treten doch nie als Personen aus ihr hervor. Mit großer Poesie schildert Jonigk ihre Gefühle, gibt ihnen eine Stimme. Die von Veronika ist vulgär („Es ist zum Kotzen, dass ich nicht die Typen, die zum Kotzen sind, zum Kotzen finde, sondern mich“), die von Robert prätentiös („Liebe ist Ablenkung. Eine Flucht in den Hochsicherheitstrakt des Gegenübers“). Dennoch bleiben Veronika und Robert seltsam fremd.

Der Welt abhanden gekommen

Die Dramaturgin Yvonne ­Gebauer beschrieb Jonigks Figuren einmal so: „Seine Sympathie und sein Schreiben gilt all denen, die Schwierigkeiten damit haben, sich in der schönen neuen ungeschichtlichen Welt zurechtzufinden, all denen, die normativen Begriffen zufolge zu alt, zu hässlich, zu unfähig oder aus welchen Gründen auch immer zu unpassend erscheinen mögen. All denen, die langsam dahindämmern mit dem Gefühl, sich selbst abhandenzukommen und sich selbst zum Ding zu werden.“ Ja, Robert und Veronika sind nicht schön, sie sind unpassend und der Welt abhandengekommen. Sympathie scheint Jonigk ihnen jedoch kaum entgegenzubringen. Sein Erzählen ist eher haltungslos. Er biedert sich jeder Person an, egal ob der geschändeten Veronika oder ihrem trinkenden, vergewaltigenden Vater. Gnadenlos schildert er Misshandlungen, seelische und körperliche Verletzungen.

Diese Kompromisslosigkeit ist so etwas wie das Markenzeichen von Thomas Jonigk. Bereits mit seinem Debütroman „Jupiter“ sorgte er beim Ingeborg-Bachmann-Preis 1999 für eine Kontroverse, als er daraus die Szene einer Gruppenvergewaltigung vorlas. Ein Teil der Ju­ro­r*in­nen war der Meinung, dass eine derart explizite Darstellung tabuisierter Gewalt zum Nachdenken anregen würde. Andere hielten Jonigks Text für reine Provokationsliteratur.

Bei „Weiter“ ist der Fall ähnlich ambivalent, wenn auch Jonigks Ton gemäßigter ist. Es ist schwer zu ertragen, was Veronika als Kind und Jugendlicher widerfährt. Noch schwerer zu ertragen ist, dass man nicht versteht, warum Jonigk sich bemüßigt fühlt, dies en détail zu beschreiben. Es geht in „Weiter“ nicht darum, Missbrauchsmechanismen aufzudecken, Opfern eine Stimme zu geben. Es ist am Ende nicht mal klar, ob das Weiter hoffnungsvoll ist oder nur eine Durchhalteparole, die der Regisseur seinen Protago­nist*innen zuruft.

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